Außen Stehende stellen sich die Menge der Mathematiker als Einheit vor: seltsame Menschen, die sich tagsüber mit Zahlen beschäftigen. Tatsächlich durchzieht die Disziplin ein tiefer Riss, der zwei verfeindete Lager trennt: Die hochtheoretische Reine Mathematik gegen die praxisnahe Angewandte Mathematik. Es geht um Posten, Fördergelder, Ruhm und vor allem: ums Prinzip. Das besagt nämlich, dass der wahre, also der Reine Mathematiker sich niemals mit der Optimierung des Verbrennungsverhaltens eines Benzinmotors befassen würde. Allein das Wort Nutzwert ist ihm schon zuwider: Er begreift sich als Künstler. Er beurteilt Formeln nicht nach ihrer Effizienz, sondern nach ihrer Schönheit. Sein oberstes Ziel lautet, Theorien zu entwerfen, die außer ihm nur eine Hand voll anderer Sonderlinge verstehen. Es geht also um Kunst gegen Kommerz, genial gegen praktisch, Bob Dylan gegen Hansi Hinterseer. Sollen die Kollegen von der Angewandten Mathematik doch einen Haufen Geld damit verdienen, Versicherungsrisiken, Finanzmodelle und Brückenpfeiler zu berechnen! Wenn sie dann vor der Uni aus ihren Porsches klettern, um an einem weiteren Tag die Lehre zu verraten, kettet der Reine Mathematiker gerade das falsche Fahrrad an die Laterne. In Gedanken sitzt er nämlich schon in seinem staubigen Kellerbüro. Dort wird er wieder die ganze Nacht über einem Primzahlproblem aus dem frühen 17. Jahrhundert brüten. Er weiß natürlich, dass er es nie lösen wird. Aber darum geht es auch gar nicht.
Reine & Angewandte Mathematik
Zwei, die nicht miteinander können.