Im Sommer wird der helle Sand am Lido vor Venedig jeden Morgen geharkt, mit schweren Maschinen. Danach sieht man kein Strandgut mehr am Ufer. Jetzt ist es Herbst, und es liegen dort, wie an allen Stränden der Welt und so auch an der Adria, Äste und ganze Baumstämme, PET-Flaschen, Gummischläuche und Plastiktüten, Dosen und Stoffreste – und Turnschuhe. Sie bestehen aus einem Material, das sie zum Strandgut besonders geeignet macht: Sie sind leicht, undurchdringlich und sehr robust.
Immer schon hatten diese Schuhe etwas Rätselhaftes, ja Unheimliches. Vielleicht waren sie nur von jemandem benutzt worden, um von einem steinigen Ufer zum Baden ins Wasser zu kommen, und wurden dann fortgespült. Vielleicht hatte jemand barfuß einen Strandspaziergang machen wollen und die Schuhe an einer Stelle stehen lassen, wo eine Welle sie erreichen konnte. Vielleicht hatte sich ein Gast auf einem vorüberfahrenden Schiff oder Boot gesonnt und seine Kleidung auf dem schwankenden Deck liegen lassen. Denkbar war immer vieles, aber es gab stets auch eine andere Möglichkeit: Dass die Schuhe von Selbstmördern, über Bord Gefallenen oder Schiffbrüchigen stammten.
Im Lauf der jüngsten Jahre haben sich die Spekulationen verändert, die sich an Turnschuhe als Strandgut knüpfen. Es erscheint zweifelhaft, dass sie von einem Badegast stammen. Viel dringlicher ist nun die Vermutung, dass sie einem Flüchtling gehörten, der auf einem seeuntauglichen Boot versuchte, irgendwo über das Mittelmeer zu gelangen. Ein paar Turnschuhe liegen am Lido, aber Berge von gebrauchten Schwimmwesten, Kleidern, Schuhen, Bootsresten sind an den Stränden griechischer und italienischer Inseln oder an den Ufern Siziliens aufgehäuft. Jeder Gedanke daran verbindet sich nunmehr mit zwei Vorstellungen, die Strände in Orte des Melodramatischen verwandeln.
Die eine Vorstellung ist die Ferienlandschaft, ein Vorgriff auf das Paradies, in dem sich der Mensch seiner Kleidung entledigt, um sich der Sonne und dem Meer auszuliefern. Die andere ist ein Kriegsgebiet, in dem Menschen ihr Leben riskieren, um einer Bedrohung zu entgehen, die ihnen furchtbarer erscheint als das Risiko, auf dieser Reise zu sterben. Meeresräume, schreibt der französische Historiker Fernand Braudel in seinem 1949 erschienen Riesenwerk Das Mittelmeer, seien nach »Menschenmaß« zu messen – je nachdem also, über welche Techniken die Menschen auf ihren Seereisen verfügen könnten. Folgt man Braudel, lässt sich das Mittelmeer höchst unterschiedlich charakterisieren, und an Metaphern ist kein Mangel: Brücke, Straße, Grenze, Graben, Friedhof.
Vier große Halbinseln erstrecken sich von der Nordküste des Mittelmeeres nach Süden: die Iberische Halbinsel, Italien, der Balkan mit Griechenland an der Spitze sowie die Türkei. Hinter der Türkei liegt noch ein Meer, das Schwarze, das man per Schiff nur über das Mittelmeer erreicht. Die vier Halbinseln teilen das kleine Meer geografisch in drei, historisch in zwei Teile, wobei die Grenze zwischen den beiden Teilen entlang der Westküste des Balkans verläuft. Ein ungeteiltes Meer war das »Mare Mediterraneum« in der Antike gewesen. Damals konnte Platon in seinem Dialog Phaidon den Philosophen Sokrates erklären lassen, die Anrainer säßen um das Wasser herum wie die Frösche um einen Teich. Diese Zeit endete mit der Antike: Nach dem Tod von Kaiser Theodosius I. im Jahr 395 nach Christus wurde das Römische Reich in Ostrom und Westrom geteilt. Seitdem gibt es das Mittelmeer als einheitlichen Raum nicht mehr, die beiden Teile kommen nicht wieder zusammen, bis auf den heutigen Tag. Von dieser Trennung berichten auch die Turnschuhe am Strand.
Nach der Teilung des Römischen Reiches war es das Weströmische Reich, das erst allmählich und dann immer schneller versank, in den Wirren der Völkerwanderung. Auch gegenwärtig kann man den Eindruck haben, dass die eine Hälfte des Mittelmeers halbwegs stabil bleibt, während die andere Seite politisch, ökonomisch und kulturell zusammenbricht – nur dass es dieses Mal der äußerste Osten ist, der sich selbst zerlegt und zerlegt wird. Zur Destabilisierung trägt bei, dass die Grenzen zwischen dem westlichen und dem östlichen Meer wanderten – und dass sich über diese Teilung eine andere legt, nämlich die zwischen dem Norden und dem Süden. Als die Araber die Iberische Halbinsel beherrschten, als das Heer des Osmanischen Reiches vor Wien stand, war der Süden weit nach Norden vorgedrungen, und umgekehrt war Algerien noch nach dem Zweiten Weltkrieg sehr französisch. Aber da hatte das Mittelmeer längst einen großen Teil seiner Bedeutung eingebüßt. Neben dem Atlantischen, dem Indischen und dem Pazifischen Ozean war es ein Nebenschauplatz der Politik geworden – was nicht heißt, dass es dadurch weniger gefährlich geworden wäre.
Das Arsenale, die ursprünglich mittelalterliche Schiffswerft, in der auf dem Höhepunkt der Macht der Republik Venedig – also vom 14. bis zum 17. Jahrhundert – mehrere Galeeren pro Tag fertiggestellt werden konnten, hat vom Land her nur einen Eingang. Vor dem Portal stehen vier steinerne Löwen, ein großer links und drei immer kleiner werdende Löwen rechts. Sie stammen aus dem antiken Griechenland, der große hat einst den Hafen von Piräus bewacht, der älteste stand möglicherweise auf Delos. Ein paar Wikinger, die sich vermutlich im 11. Jahrhundert in der Gegend aufhielten, die vielleicht im Dienst des oströmischen Kaisers standen, vielleicht auch Händler waren, verzierten ihn mit Runen. In Venedig und an diesem Ort stehen sie seit dem 17. Jahrhundert: Ein siegreicher venezianischer Flottenkommandeur hatte sie mitnehmen und aufstellen lassen. Jetzt stehen sie vor dem Arsenale auch als Zeichen dafür, dass die Geschichte nicht nur Europas, sondern auch des Vorderen Orients immer auch eine Geschichte des Mittelmeers war.
Odysseus war die Figur, die den Osten und den Westen zusammenhielt, als er, unwissend und irrend, von Volk zu Volk und von Gewalttat zu Gewalttat reiste und, nachdem er endlich nach Hause zurückgekehrt war und auch dort ein Blutbad angerichtet hatte, wieder aufbrach, irgendwohin, bis zur Insel der Calypso vielleicht oder sogar darüber hinaus. Das Mittelmeer ist, an den Ozeanen gemessen, ein kleines, eng eingefasstes Gewässer, eben ein Meer in der Mitte. Umschlossen ist es von drei Kontinenten, die ineinander übergehen und nur durch schmale Wasserstraßen voneinander getrennt sind: durch den Suezkanal, den Bosporus und die Straße von Gibraltar. Aber auch die Wasserfläche innerhalb dieser engen Grenzen ist mannigfach geteilt: im Westen durch die Balearen, dann durch Korsika und Sardinien, durch Italien mit Sizilien (dem sich auf der afrikanischen Seite Tunesien entgegenstreckt), durch Griechenland und Kreta, durch Malta – nirgendwo erreicht das Mittelmeer ozeanische Anmutung, überall gibt es Meerengen und Sunde, überall ergeben sich Strecken, auf denen der Weg über das offene Meer kurz ist, was die oft falsche Hoffnung nährt, es wäre leicht, vom einen Ufer zum anderen zu kommen.
So hochgradig zivilisiert ist das Mittelmeer, wenn man nur die Orte und den Grad seiner Besiedlung betrachtet, dass der Architekt Herman Sörgel Ende der Zwanzigerjahre vorschlug, das Gewässer zum Teil trockenzulegen und einen gewaltigen Staudamm in der Straße von Gibraltar zur Gewinnung von Energie und als feste Brücke zu nutzen. Auch Sörgels Vision war politisch: Afrika sollte die Rohstoffe liefern, damit Europa sich im Wettbewerb gegenüber den beiden großen Mächten Amerika und Asien behaupten könne. Dazu bedürfe es der Landgewinnung und stabiler Verkehrswege. Selbstverständlich wurde nichts aus dieser Idee, was nicht nur daran lag, dass es unmöglich gewesen wäre, die für den Bau notwendigen Mengen an Beton herzustellen. Vor allem brauchte man, als die Epoche des Kolonialismus zu Ende gegangen war, Afrika und die Afrikaner nicht mehr, jedenfalls nicht in der Form, dass man sich des Kontinents als eines Besitzes hätte bemächtigen müssen. Was die Industriestaaten an Rohstoffen heute wie damals benötigen, bekommen sie auch so, meist ohne sich unmittelbar engagieren zu müssen. Dafür sorgt ein Markt, auch wenn er mit großen Teilen der afrikanischen Bevölkerung wenig oder gar nichts anfangen kann – und diese blieb, bis zu den jüngsten Ereignissen, in Afrika zurück.
Auf dem offenen Meer vor dem Lido liegen ein paar Frachter, kleine und mittelgroße. Sie liegen dort unbeladen, auf Reede, und warten darauf, dass ihnen jemand den Auftrag gibt, ein paar hundert Container (denn darum handelt es sich meistens) zu transportieren. Vor Beirut liegen ähnliche Schiffe, vor Barcelona auch, und vor Istanbul sind es manchmal Hunderte. An ihrer Zahl lässt sich, unter gewissen Bedingungen, aber zuverlässiger womöglich als an jeder öffentlichen Statistik, die jeweilige Lage der Konjunktur ablesen: Sind es wenige, stehen die Zeichen auf Wachstum, sind es viele, nimmt auch die Arbeitslosigkeit zu. Daneben offenbaren diese Schiffe, wie es in der ökonomischen Konkurrenz unter den Anrainerstaaten des Mittelmeers steht – und in der Konkurrenz der Häfen. Dass vor Neapel, im Unterschied noch zu den Siebziger- oder Achtzigerjahren, nur wenige Schiffe liegen, heißt indessen nicht, dass dort übermäßig viel produziert würde. Es bedeutet vielmehr, dass Neapel, wie ganz Süditalien, den Wettbewerb um die großen Häfen am Mittelmeer bis auf Weiteres verloren hat. Die großen Schiffe und viele der mittleren legen jetzt in Tanger an oder in Piräus, einem Hafen, der zum Verkauf steht und derzeit von einem chinesischen Konzern gepachtet wird.
Unlängst schlug ein Wirtschaftsprofessor aus Neapel der italienischen Regierung vor, ein gigantisches Konjunkturprogramm aufzulegen. Italien, erklärte er, liege im Mittelmeer wie ein riesenhafter Landungssteg: Warum sollen Rotterdam oder Hamburg die großen Häfen Europas sein, wenn man doch den größeren Teil des europäischen Kontinents, vor allem im Osten, von Italien aus auf kürzeren Wegen erreichen könne (so wie das bis zum Ersten Weltkrieg von Triest aus geschah)? Abwegig ist der Gedanke nicht. Noch immer wird der größte Teil des Welthandels über das Mittelmeer abgewickelt, und nach der Eröffnung des erweiterten Suezkanals ist das erst recht der Fall. Und natürlich ist der italienische Staat nicht gerade reich, doch es fließt ja nach wie vor, nicht zuletzt aus Mitteln der Europäischen Union, sehr viel Geld in seinen Süden.
Und ist der Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht eben dies gelungen: unter neuen Voraussetzungen eine historische Bedeutung zurückzugewinnen? Der politische und wirtschaftliche Aufstieg der Türkei geht auch darauf zurück, dass sie die letzte Bastion der Nato vor den Kriegslandschaften des Nahen Ostens ist. Aber er hat ebenso viel damit zu tun, dass die Türkei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder zum Knotenpunkt auf den alten Handelswegen wurde, die jetzt aus den neuen Staaten im Süden des ehemaligen Sowjetreiches wieder in das Mittelmeer führen.
Am Ufer des Lido, gleich oberhalb des Sandstrandes, liegen zwei Hotels, die beide kurz nach 1900 errichtet wurden. Das eine, das »Grand Hotel Excelsior«, ist – auch dies eine Reminiszenz an die Geschichte des Mittelmeers und Venedigs – in byzantinischer Bauart errichtet. Das andere, das »Grand Hotel des Bains«, im Jugendstil. Es ist berühmt, weil Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig hier spielt, wie auch deren Verfilmung durch Luchino Visconti. Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, pflegte hier abzusteigen, und auch König Faruk von Ägypten, der selbst ein Anrainer des Mittelmeers war.
Das »Hotel des Bains« steht leer. Eine Zeit lang hieß es, es soll vielleicht umgebaut werden und künftig Eigentumswohnungen enthalten, zugleich Teil einer großen Ferienanlage werden, die den ganzen Norden des Lido umfassen werde. Wo man die Käufer der Appartements rekrutieren will? An die arabischen Länder haben die Investoren gedacht, und an Oligarchen, die zur Biennale oder zu den Filmfestspielen mit ihren Yachten kommen, die ansonsten vor der Côte d’Azur liegen, Marbella an der Costa del Sol anlaufen oder durch die Ägäis kreuzen. Indessen: Eine Yacht ist, im Vergleich zum Hotel, ein souveränes Gemeinwesen, und die Grand Hotels braucht keiner mehr. Und obwohl gerade zu lesen war, dass das ehrwürdige Haus nun doch wieder zum Hotel werden soll, wird man den Verdacht nicht los, dass das »Grand Hotel des Bains«, den dort hängenden Bauschildern zum Trotz, längst eine Investitionsruine ist.
So etwas wie das alte Mittelmeer hätte hier noch einmal entstehen sollen, genauer: das Mittelmeer, wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts als befristete Vorstellung eines Paradieses auf Erden entstand und nach dem Zweiten Weltkrieg demokratisiert wurde – als ebenso sonnenbeschienene wie dramatische Landschaft, in der sich der Mensch der Muße und den Sinnen hingibt, unter einer Pergola oder an einem Strand, während ein ganzes Volk freundlicher, naturverbundener Köche, Kellner und Musiker dafür sorgt, dass es in den kostbarsten Wochen des Jahres an nichts fehlt. Noch leben ein paar alte Fischer und Bauern, die davon erzählen können, wie sich, für sie zunächst ganz unbegreiflich, die hundert oder zweihundert Meter oberhalb der Wasserlinie in kostbare Immobilien verwandelten, um in jedem Sommer von unzähligen Menschen bevölkert zu werden, die dort nichts anderes tun wollten, als zwei Unendlichkeiten zu begegnen, dem Himmel und dem Meer. Strandurlaub ist ein kaum begreifliches Vergnügen, zu dessen Erklärung man theologisch werden müsste: »Rien faire comme une bête (›nichts tun wie ein Tier‹), auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen«, wie Theodor W. Adorno schrieb – diese Vorstellung von Glück ist auf der einen Seite an die freiwillige Rückkehr zum primitiven Leben gebunden, Feuer am Strand und Rituale des Rausches inklusive, auf der anderen Seite an jene Betonierung der Küsten, nach der die vermeintlich schönsten Landschaften der Erde den urbanen Landschaften der industrialisierten Länder, denen man zu entkommen suchte, auf fatale Weise ähneln.
Über Jahrzehnte hinweg war das Mittelmeer für die Menschen des Nordens – und zum Norden in diesem Sinne gehört merkwürdigerweise nicht nur das Europa nördlich der Alpen, sondern auch das Italien der Städte – eine Vision irdischer Erlösung. Vielfach ist es immer noch so, obwohl ein großer Teil dieser Vision, aufgrund jener Urbanisierung, aber auch aufgrund der Flugpreise, in andere Weltgegenden umgezogen ist, in die Karibik etwa oder nach Thailand.
Der Urlauber und der Flüchtling sind auf unheimliche Weise komplementäre Gestalten. Das beginnt damit, dass sie einander immer wieder begegnen, am Strand zum Beispiel, der eine so nackt oder halbnackt wie der andere. Und es setzt sich darin fort, dass sie einander begleiten: Es ist der Flüchtling, der, nicht selten illegal, die Teller spült, von denen der Urlauber in seinem Ferienrestaurant isst, der seine Koffer trägt, der ihm Kopien von Markentaschen verkauft und der ihm zuletzt womöglich die Börse stiehlt. Außerdem bewegen sich der Urlauber und der Flüchtling auf den gleichen Reiserouten, indessen oft in gegenläufiger Richtung und zuweilen zeitlich versetzt. Am Brenner zumindest begegneten die beiden sich immer, und auf den Brücken von Venedig, wenn der Flüchtling dem Touristen als fliegender Händler entgegentritt. Und es endet damit, wie man mit leichtem Schrecken feststellen muss, dass der Urlauber, wenn er in den Süden reist, keineswegs nur die Bequemlichkeit sucht, sondern auch den Schock: Er will sich einer fremden, existenziell anderen Situation aussetzen. Er betreibt eine Entwurzelung, auf Zeit, gewiss und allseitig versichert, aber doch eine Entwurzelung. Es ist, als wollte er wenigstens von fern Bekanntschaft schließen mit einer Erfahrung, die den Flüchtling auf eine ganz andere, elementar bedrohliche Weise, mit absolut ungewissen Aussichten und ohne Rückhalt ergreift.
Im Sommer wird der helle Sand am Lido vor Venedig jeden Morgen geharkt, mit schweren Maschinen. Danach sieht man kein Strandgut mehr am Ufer. Jetzt ist es Herbst, der Wind bläst von Süden, von Afrika, wie so oft, wenn das Wasser über die Ufer tritt und den Markusplatz überschwemmt.
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