SZ-Magazin: Über die ersten zwanzig Jahre Ihres Lebens ist nur bekannt, dass Sie mit drei Geschwistern in der Kleinstadt Lütjenburg nahe der Ostseeküste aufgewachsen sind. Was haben Ihre Eltern gemacht?
Daniel Richter: Meine Mutter war Hausfrau und Verkäuferin, mein Vater war Lkw-Fahrer und wurde in den Sechzigerjahren im Rahmen der Restrukturierung der Arbeiterklasse zum Versicherungskaufmann umgeschult. Als ich 16 war, hat er die Familie verlassen. Es gab eine Oma, die ich sehr geliebt habe. Ich hatte eine glückliche Kindheit. In meiner Erinnerung ist sie ein halbtraumwandlerischer Zustand zwischen Buch lesen, Wald und sehr vielen Kindern.
In welchem Alter verließen Sie Ihr Elternhaus?
Mit 16. Wenn man nicht aus dem Bürgertum stammte, wurde erwartet, dass man sich dann selber trägt und eine Lehre macht. Für eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern und wenig Geld war jedes Kind Stress.
Wie haben Sie auf den Verlust des Vaters reagiert?
Wenn man psychologisieren will, hat die Enttäuschung über den Vater zu einem verlängerten antiautoritären Habitus geführt, der sich mit politischen Betrachtungen paarte. Die Personwerdung hat bei mir mit 16 eingesetzt. Ich lernte Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun kennen, trampte nach Kiel oder Hamburg, um die guten Platten zu bekommen, las wahllos Karl May, Karl Marx und Carl Barks.
Welche Lehre haben Sie gemacht?
Lithograf, also Druckvorlagen herstellen und Fotos retuschieren. Nach einem Dreivierteljahr bin ich rausgeflogen. Reguläre Arbeit und ich, wir konnten uns nie anfreunden. Beim Versuch, doch noch das Abitur zu machen, bin ich in der zwölften Klasse rausgeflogen. Ich habe dann den Kriegsdienst verweigert und bin 1980 nach Hamburg gezogen, um Zivildienst in der Altenpflege zu machen. Horn war damals ein proletarisch geprägter Stadtteil. Als Altenpfleger war man mit Leuten konfrontiert, die halb durchgefault mit fünf anderen in einer Eineinhalbzimmerwohnung saßen und schon morgens betrunken ZDF schauten. Diese Form von Elend, Einsamkeit und Resignation kannte ich nicht.
Wo haben Sie gewohnt?
Anfangs in einer Zivildienstwohnung, dann ging es durch diverse Kellerlöcher, Wohngemeinschaften und halblegale Wohnungen in besetzten Häusern. Einmal wurde ich von den Behörden als Obdachloser deklariert, weil ich keine Arbeit und keine Meldeadresse hatte. In der Nähe vom Obdachlosenasyl Pik As war ein Amt, in dem man montags und donnerstags Bargeld abholen konnte, 72 Mark im Monat. Das klingt entweder sozial dramatisch oder romantisch, aber ich hatte überhaupt kein Problem damit. Ich habe mich für Geld nie interessiert. Ich hatte Freunde und eine Freundin, in die ich verliebt war, ich habe Musik gehört, mich mit Politik beschäftigt und gelesen, von Hegel und Adorno bis Stefan George und Hubert Fichte.
Wovon haben Sie in den Jahren nach dem Zivildienst gelebt?
Ich habe das Übliche gemacht, um ohne großen Aufwand gut durch den Tag zu kommen, von selbst bemalte T-Shirts auf Straßenfesten verkaufen bis zu kleinkriminellen Aktivitäten. Besser war dann Schallplatten verkaufen und Kneipier. Dass ich meine spätjuvenile Delinquenz mit Euphorie betrieb, lag an meinem Faible für gutes Essen. Da ich mir kein gutes Essen leisten konnte, bin ich ein ausgesprochen guter Dieb geworden. Man klaute in einem Delikatessengeschäft vernünftiges Fleisch und teuren Käse, um dann in Ruhe beim Lesen in der Wohnung zu speisen.
Haben Sie auch Bücher gestohlen?
Selbstverständlich. Erstausgaben. Taschenbücher klaut man natürlich nicht.
Sie sollen damals ein erstklassiger Kampfsportler gewesen sein.
Sport und Antifa, das bedingte einander. Ich fing mit Karate an, aber das war mir zu eckig und autoritär. Über Thai- und Kickboxen bin ich bei Escrima gelandet. Das ist eine sehr effiziente Selbstverteidigungsmethode von den Philippinen. Der Verein, in dem ich trainierte, war eine lustige Melange aus Hausbesetzern, wirklichen Kriminellen, SEK-Beamten und Sportlern. Auf Demonstrationen erkannte man manchmal auf der anderen Seite der Absperrung einen Sportskollegen mit Helm, Schild und Schlagstock.
Als in Ihrem Viertel Neonazis auftauchten, wurden Sie nach der wirksamsten Selbstverteidigungstechnik gefragt. Sie sollen geantwortet haben: auf den Hals schlagen.
Ganz ehrlich, ich würde diese Legenden gerne loswerden, auch wenn sie wahr sind. Diese Form von Männlichkeitshabitus ist mir vollkommen fremd. Der Grund, Kampfsport zu betreiben, waren die Neonazi-Schläger und HSV-Hooligans, die einen im Umfeld der Hafenstraße und auf Konzerten permanent belästigten. Das waren organisierte, militante Rechtsradikale, die gefährlich waren. Wenn der HSV gegen Dortmund spielte, standen auf einmal 500 Leute vor einem, die »Sieg Heil!« brüllten oder »Wir schlagen euch tot, Zecken!« Diese Erfahrung der Ohnmacht führte dazu, dass man sich wehren können wollte.
Sind Sie mit der Justiz in Berührung gekommen?
Ein wenig. Es gibt ein historisches Foto, auf dem zwei deutsche Bischöfe mit einem hohen SS-Mann eine Parade abgehen, die Hand zum Hitlergruß erhoben. Als wir das Foto auf T-Shirts druckten und in Schallplattenläden verkauften, klagte die katholische Kirche auf Unterlassung wegen Verleumdung und volksverhetzerischer Absicht. Eine Verdrehung der historischen Wirklichkeit, aber wir hatten kein Geld, um durch die Instanzen zu gehen.
Wie war Ihr Verhältnis zu Alkohol und Drogen?
Mit 22, 23 habe ich aufgehört, Alkohol zu trinken, weil er meinen Verstand nicht klarer machte. Vorher hatte ich exzessiv getrunken und Amphetamine konsumiert. Als ich mit 29 anfing, Kunst zu studieren, bin ich sofort Alkoholiker geworden. Das war nervlich nicht anders durchzuhalten.
Wie kam jemand, der bis dahin nur T-Shirts bemalt und Plattencover gestaltet hatte, auf die Idee, sich an der Hochschule für bildende Künste zu bewerben?
Die Auslöser waren das Ende meiner Beziehung, die Tatsache, dass ich bereits 29 war und die Hochschule kein Abitur verlangte, die Aussicht, Bafög zu kassieren, und der Fall der Mauer. Es war klar, dass sich mit der Vereinigung der Wind drehen wird und die autonomen Projekte verschwinden. Ich habe 1989 keine Euphorie empfunden. Das erste Unappetitliche war diese Begeisterung für die Nation, die mir vollkommen egal war. Mit jemandem aus Leipzig hatte ich weniger zu tun als mit jemandem aus Amsterdam. Ostdeutschland war so weit weg wie Albanien.
Hatten Sie vor Ihrem ersten Tag als Kunststudent auch mal Bücher von Malern geklaut?
Logo. Man wusste, dass es in Hamburg Martin Kippenberger, Werner Büttner und Albert Oehlen gab. Und es gab das »La Paloma«. Ich bin da nicht reingegangen, weil ich die Leute nicht mochte, aber mir gefiel die Idee, dass es im Rotlichtmilieu eine Kneipe gibt, in der Bürger neben Künstlern, Zuhältern, Transen und Strichern sitzen, und es hängen eine Beuys-Schaufel an der Wand und Bilder von Jörg Immendorff und Blinky Palermo.
Mochten Sie St. Pauli?
Ja. Ich mochte auch fast schon pittoreske Läden wie Harrys Hafenbasar in der Hafenstraße, wo mit Krims und Krams gehandelt wurde, den Matrosen aus aller Welt mitgebracht hatten, vom aufgeblasenen Kugelfisch bis zum Fetisch aus Nigeria. Da es in den Achtzigerjahren noch nicht so viele Containerschiffe gab, hatte man den schönen Anblick eleganter südamerikanischer Offiziere in weißen Ausgeh-Uniformen. Das habe ich immer als total weltstädtisch und wahnsinnig romantisch empfunden, als wäre man in einem Roman von Joseph Conrad. Ich kann mich erinnern, dass am Hein-Köllisch-Platz mal argentinische Offiziere in Prunkuniform von der einen Seite und weiß gekleidete schwarze Matrosen von der anderen Seite kamen. Beide Gruppen waren offensichtlich auf Aufriss aus. Dieses Bild romantischer, fast homosexueller Männlichkeit in einem Viertel mit Kopfsteinpflaster und schmierigen Gassen hatte einen wahnsinnigen Appeal. Sich totsaufen und dumm rumvögeln hat mich selber nie interessiert, aber ich habe gern mittendrin gestanden. Zwischen 1986 und 1994 habe ich wahnsinnig viel Zeit an der Kreuzung Davidstraße und Reeperbahn verbracht. Es gab da einen Sicherungskasten, auf dem ich oft bis fünf Uhr morgens mit einem Freund saß. Man aß Pommes und schaute Theater.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule?
Die Auswahlkommission lehnte mich ab, aber Werner Büttner legte sein Veto ein. Beworben hatte ich mich mit Bleistiftzeichnungen, die sich mit den Wahrnehmungsklischees von Sexualität bei Rappern beschäftigten. Der zweite Block waren Zeichnungen, die sich kontrapunktisch mit den Ernsten Gesängen von Hanns Eisler auseinandersetzten. Auf eine Zeichnung war ich sehr stolz, weil sie eine Attacke gegen etablierte männliche Künstler war. Es gibt ein Foto, das Baselitz, Penck und Immendorff zeigt. Das habe ich durchgepaust und drunter geschrieben: »Die waschen ihre Schwänze nicht.« Auf dem Niveau habe ich mich beworben. Ich war dann ein sehr glücklicher Student, weil ich etwas über mich und die Kunst lernen konnte, for free. Die erste Frage, die mich interessierte, war, warum Bild A Illustration genannt wird und Bild B Kunst.
Später wurden Sie Assistent von Albert Oehlen. Beschäftigen Sie heute einen Assistenten?
Nein, ich weiß nicht, wozu der gut sein soll. Einmal habe ich jemanden für mich Quadrate ausmalen lassen. Nach einer Stunde Zugucken war ich so deprimiert davon, wie der gearbeitet hat, dass ich ihm Geld gab und es lieber selber machte.
Der Bildhauer Thomas Schütte sagt: »Von mir gibt’s nur etwas, wenn die Sammler im Atelier auftauchen. Ich will sehen, wer meine Werke kauft. Das ist so eine Art Gesichtskontrolle.«
Ja, Schütte, guter Künstler, intelligenter Typ. Guter Künstler bin ich auch, aber offensichtlich bin ich nicht intelligent. Ich kenne die meisten Käufer nicht.
Vor ein paar Jahren besuchte Rolf Breuer Ihr Atelier, damals Chef der Deutschen Bank. Kommen Sie sich in solchen Situationen auf furchtbare Weise arriviert vor?
Nein, ich finde solche Situationen interessant. Der Kunstbetrieb ist hierarchisch organisiert, aber das Entree in die Kunstwelt ist egalitär. Der normale Weg für jemanden ohne Abitur, Status und Geld, in eine großbürgerliche Villa zu kommen, ist einzubrechen oder als Putzfrau zu arbeiten. Als Künstler kannst du jahrelang gedarbt haben, und plötzlich ruft dich Brad Pitt an und will sieben Bilder von dir für seinen Palast in Hollywood haben. Diese Durchdringung sozialer Schichten und Hierarchien macht die Kunstwelt zu einem spannenden Labor.
»Das glaube ich sofort. In meinem Klo hängen auch drei Hirsts.«
Welches Kunstwerk würden Sie gern besitzen?
Einen kleinen Vallotton. Mir gefällt aber die Idee nicht, ein Bild zu kaufen und bei mir zu Hause an die Wand zu hängen. Kunstwerke sollen zugänglich sein und gehören deshalb in die Öffentlichkeit. Zu meiner Idee von Kunst zählt, dass sie einer abstrakten Menschheit gehört und nicht als Ego-Fetisch in den Palästen saudi-arabischer Sklavenhalter verschwindet.
Ihr Kollege Jeff Koons sammelt unter anderem Courbet, Manet, Picasso, Dalí und Magritte.
Das macht er, weil er sich selber für die hält.
In Damien Hirsts Bauernhaus gibt es neben der Küche einen mit Sitzsäcken ausstaffierten Fernsehraum. Neben dem Großbildfernseher hängt ein Selbstporträt von Francis Bacon, das Hirst bei einer Auktion für 33 Millionen Dollar gekauft hat.
Das glaube ich sofort. In meinem Klo hängen auch drei Hirsts.
Insiderhandel, Preismanipulationen, Kartelle: Was einen ins Gefängnis bringt, ist in Ihrem Metier gängige Praxis.
Ja, deswegen sind wir auch ein Kunstbetrieb.
Ist es ein moralischer Konflikt, Teil einer semikriminellen Sphäre zu sein?
Als jemand, der dem Semikriminellen nicht grundsätzlich negativ gegenübersteht, müsste ich sagen, ich finde diese Praxis gut. Stimmt aber nicht, weil es eine Form von Kriminalität ist, die ich langweilig finde. Leute mit sehr viel Geld wollen durch Anlagen in Kunst noch mehr Geld. Die Schönheit der Kunst, die Suche nach Wahrheit, das Befragen der Bilder, befreiendes Gelächter, Utopisches – all das findet da nicht statt. Statt die Besitzverhältnisse umzukehren, werden sie radikalisiert. Diese hysterische Begeisterung, mit der über Geld als Kunstdefinition geredet wird, deprimiert mich genauso wie die Erregung der Gegenseite, die an jemandem wie Helge Achenbach endlich die Fratze der herrschenden Klasse brandmarken will. Dieses permanente Gerede, der sehr reiche Herr Dussel hat für 400 Milliarden ein Bild vom sehr reichen Herrn Schussel gekauft, ist doch trist. Wer will sich denn mit so was beschäftigen?
Wiktor Pintschuk, ein Milliardär aus Kiew, soll allein bei den Galerien White Cube und Larry Gagosian 1,5 Milliarden Dollar für Künstler wie Jeff Koons und Damien Hirst ausgegeben haben.
Wie so viele Oligarchen hatte Pintschuk lange ein Reputationsproblem. Heute sitzen Ólafur Elíasson, Ai Weiwei und Andreas Gursky im Beirat des Pintschuk-Preises. Ein Oligarch, der Zugang zur internationalen Hautevolee haben will, geht los und kauft für viel Geld Gegenwartskunst. Dann kommen auch die beautiful people wie Kate Moss und Kanye West in deinen Event Space, und du wirst auf Oscar-Bälle eingeladen. Ist vielleicht lustiger als kegeln zu gehen.
Besuchen Sie Messen wie die Art Basel Miami Beach?
Nein. Diese Veranstaltung riecht schon aus der Ferne nach Kunstrasen. Ich war dieses Jahr das erste Mal auf der Kunst-Biennale in Venedig, weil Freunde von mir den deutschen Pavillon gemacht haben. Ich habe mich sehr gut amüsiert und viele interessante Beobachtungen gemacht. Es war, als würde ich wieder auf dem Sicherungskasten Davidstraße Ecke Reeperbahn sitzen.
Was fiel Ihnen auf?
Die Vielfalt von Schönheit, Schlauheit, Dummheit und Galeristen-Ermüdung. Der Stress der Propaganda neben der Leichtfertigkeit der Unbedarften. Das Nebeneinander einer an Louis XIV. erinnernden neuen Aristokratie und ernsthafter, engagierter Intellektueller. Parallel dazu hast du junge Studenten und Studentinnen, die sich zugekokst bis obenhin wie Bolle amüsieren und durchschnorren. Dieses Theater der Eitelkeiten macht mir Spaß.
Als der Künstler Richard Prince gefragt wurde, wie es sich anfühle, plötzlich nicht mehr angesagt zu sein, antwortete er, er sei glücklich über die nachlassende Nachfrage: So habe er mehr Zeit, um für seine Pilotenlizenz zu trainieren. Die sei ihm wichtig, da er viel Geld spare, wenn er seinen Privatjet selber fliege. Kräuseln Sie da ironisch die Lippen oder denken Sie: bigottes Arschloch!
Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich habe in den letzten vier Jahren eine einzige Ausstellung gemacht. Seit drei Jahren arbeite ich an neuen Werken, weil sich beim Betrachten der alten Fragen ergeben haben. Kunst ist ja, für bisher unbekannte Fragen eine Lösung zu finden.
Sie gelten als politischer Maler. Vor ein paar Jahren sagten Sie: »Je autoritärer ein System ist, desto bedeutender wird die Kunst als Antagonist. Wir aber leben im Museum Europa, und da ist dieses ganze Herumpolitisieren nur eine Ersatzhandlung, nur eine Geste der Selbstgerechtigkeit. Jemand, der ein Saatgutprojekt in Indien betreibt, tut mehr als jemand, der sich in seiner Kunst mit dem Postkolonialismus beschäftigt.«
Das denke ich immer noch. Die Begründung für meine Kunst ist nicht, dass sie zur Verbesserung der Welt beiträgt, sondern dass ich durch sie zur Verbesserung der Kunst beitragen kann und dass dies in einer interessanten Volte zur Verbesserung der Welt beiträgt. Meine Malerei ist nicht interessant wegen dem, was auf meinen Bildern passiert. Es ist egal, ob ich einen alten Punker male, eine Stahlfaust oder eine abstrakte lyrische Komposition. Meine Malerei ist interessant, weil die Farbe bei mir etwas tut, was sie bei anderen nicht tut.
Der Dramatiker Heiner Müller, ein großer Politisierer, sagte nach dem fünften Whisky gern: »Künstler sind im Politischen Idioten.«
Das unterschreibe ich zu zirka neunzig Prozent. Müllers Satz gilt aber auch für alle Dramatiker.
Kunstkritiker überschlagen sich seit Jahren mit Komplimenten für die politische Relevanz und subversive Kraft Ihrer Bilder.
Ich nehme auch Lob von der falschen Seite. Um die Rollen im Theater der Öffentlichkeit besetzen zu können, braucht man den jungen Migranten, der bei The Voice of Germany gewinnt, und man braucht Leute wie Jan Delay, Sibel Kekilli und Fatih Akin. Die Künstlerrolle ist seit dem Tod von Jörg Immendorff vakant. Jonathan Meese will sie nicht mehr spielen, weil er gemerkt hat, dass sie ihn aushöhlt. Die Figur, die er von sich entworfen hat, wird vom Publikum so ernst genommen, dass er aus ihr nicht mehr rauskommt. Neo Rauch wäre für die Künstlerrolle geeignet, aber er hält sich zurück, weil er sehr in seiner Kunst verwurzelt ist. Neo äußert sich präzise und vorsichtig. Ich bin etwas gröber geschnitzt. Die deutsche Öffentlichkeit interessiert sich nicht für mich, weil ich so ein fantastischer Künstler bin, sondern weil ich die Leerstelle großmäuliger Künstler besetzen kann. Es gibt ja viel erfolgreichere Künstler als mich, nehmen Sie die ganzen Fotografen. Ihre Bilder sind widerspruchsfreie Ingenieursarbeit auf einem sehr reflektierten Niveau, als würde man einem intelligenten Seminarleiter zuhören, der die maßgeblichen Leute zitiert. Damit lässt sich das romantische Künstlerbild in der Öffentlichkeit aber nicht ausfüllen. Ein Interview mit Thomas Demand ist stets auf seriöse Weise interessant, und er kommt sehr gut Gerhard-Richter-mäßig rüber. Seine Kunst hat einen Lehreffekt, den die Leute lieben, weil er ihnen das Gefühl gibt, schlau zu sein – was ja auch der große Sinn von Gerhard Richter ist. Ich betrachte einen Gerhard Richter, und schon bin ich ein bisschen schlauer geworden.
Wissen Sie, wie Richter über Ihre Bilder denkt?
Ein Journalist hat ihn mal nach mir gefragt. Seine Antwort war sinngemäß: Nein, nein, das ist mir zu krikelig, zu grell, zu bunt, zu aufdringlich. Finde ich aus seiner Sicht auch einleuchtend.
Ihr schönster Satz über Ihren Namensvetter lautet: »Gerhard Richter ist das Sonderphänomen eines Malers, den alle mögen, die Malerei nicht mögen.«
Bei Richter kriegt man Kitsch und Intelligenz. Was Schöneres kann es gar nicht geben. Für Laien sind seine Bilder wunderbar perfekt gemalter Kitsch, für die Intelligenten sind sie eine Reflexion über den Kitsch. Das macht ihn so wahnsinnig erfolgreich. Er ist ein guter Maler, aber der Malerei hat er nichts gebracht. Malerei, die mich berührt, handelt vom Fehlermachen.
»Ich würde mir vorkommen wie jemand, der in der Öffentlichkeit onaniert.«
Sie lesen keine Interviews mit Malern, Begründung: »Sie verderben mir die Kunst eher, als dass sie sie mir erhellen.«
Ich lese in Zeitungen den Politik- und Wirtschaftsteil. Das Feuilleton überblättere ich, weil sich mein Leben dem Ende zuneigt. Es gibt einen wahnsinnigen Abrieb an Dingen, die für nichts signifikant sind.
Hans Ulrich Obrist, der wohl berühmteste lebende Kurator, erzählte unlängst im SZ-Magazin, er beschäftige eine Art Nachtwächter, der für ihn online sei, während er schlafe.
Was für ein verplempertes und aufschneiderisches Leben. Er kommt überall so gut an, weil es ein modernes Leben ist. Für mich kommt bei allem, was Obrist gemacht hat, keine interessante Erkenntnis rum. Das ist öde Netzwerkerei von Leuten, die weder Philosophen oder Medientheoretiker sind noch Künstler.
Über Ihren Alltag im Atelier sagen Sie: »Die Wahrheit ist, dass ich da manchmal tagelang rumsitze, Platten höre, Singles sortiere, Bücher lese und sieben Minuten male. Ich mag das Malen selber nicht, es ist klebrig, immer sind die Finger schmutzig.«
Wenn es nach mir ginge, müsste man nur im Atelier rumsitzen, und die Bilder würden sich selber malen. Meine Utopie ist das Malen ohne körperliche Bewegung.
Ihre Frau Angela betreibt als Theaterregisseurin Kollektivkunst. Sie dagegen malen in totaler Stille in einem Hinterhaus im Westen Berlins.
Ich kann hier hervorragend Musik hören, ohne dass ein Auto knattert oder ein Vogel zwitschert. Das brauche ich für mein Seelenheil. Wer sich für Malerei entscheidet, entscheidet sich für die Einsamkeit, alleine zu arbeiten, vielleicht aus einem unbewussten psychologischen Motiv heraus. Insofern sind sich der Maler und der Literat ähnlich. Dieses Alleine-im-Raum-Grübeln ist wie eine ewig verlängerte Pubertät. Wenn die Mutter klopft, schreit man, lass mich in Ruhe! Und wenn es dann heißt, was machst du da, Junge?, schreit man, das geht dich überhaupt nichts an! Weil ich diese Situation wahnsinnig angenehm finde, habe ich keinen Assistenten. Dann wäre ja ein zweiter Mensch im Raum.
An wen denken Sie beim Malen?
An Menschen, an denen ich hänge. Und an Sachen, die ich gelesen habe. Als Student habe ich beim Malen an Über-Ich-Instanzen gedacht. Das waren natürlich die Lehrerfiguren und meine Vorbilder in der Malerei.
Ein Schriftsteller, der nicht schreibt, wird über kurz oder lang depressiv. Müssen Sie malen?
Wenn ich in Berlin bin, weiß ich, dass es in Berlin ein Atelier gibt, und dann fühle ich mich verpflichtet zu malen. Das Atelier ist das Raum gewordene Hirn. In dem Moment aber, wo ich raus bin aus Berlin, interessiert mich die Malerei überhaupt nicht mehr. Ich kann nicht wie Rainald Goetz rumlaufen und ununterbrochen Skizzen machen. Ich würde mir vorkommen wie jemand, der in der Öffentlichkeit onaniert. Wenn ich weg bin, bin ich sehr gerne weg. Es ist nicht so, dass mir nachts die Finger zucken und ich nach der Palette auf dem Nachttisch greife.
Es gibt zigtausend Bücher von Schriftstellern über Schriftsteller, die beim Schreiben eines Buches verzweifeln. Warum reden Maler so ungern über ihre Selbstzweifel und die sonderbare Mischung aus Selbstverachtung und Größenwahn?
Vielleicht, weil sie lediglich der eigenen Grandiosität nachhängen und der Verbitterung darüber, dass die anderen Scheiße sind. Das ist wie bei Berliner Beamten.
Angenommen, neben Ihrer Staffelei hinge eine Kamera: Was würde man über Ihre Arbeitsweise lernen?
Ich bin kein Stilist, eher ein Methodiker mit leichten geistigen Aussetzern und dunklen Löchern. Ich habe mal zwölf Monate damit verbracht, im Atelier Musik zu hören, an die Decke zu schauen und ein paar untote Bilder durch künstliche Beatmung am Leben zu erhalten. Ich dachte, okay, dieser Ansatz ist zum Scheitern verurteilt, trotzdem musst du immer weitermalen, denn vielleicht gibt es irgendwann durch Zufall einen Fehler, der die Möglichkeit für ein künftiges Bild ist. Was mit der Hand entsteht, lässt sich nur beurteilen, wenn man es ausgeführt hat. Das ist wie beim Kochen. Es klingt erst mal gut zu sagen, ich verbinde vegetarische Küche und Fleischküche. Erst die Praxis zeigt die daraus resultierenden Probleme.
Sie malen vom frühen Abend bis Mitternacht.
Das stimmt nicht mehr. Ich fange um zehn Uhr vormittags an und arbeite bis in den späten Abend. Zwischendrin gehe ich mit meinem Sohn spielen.
Ihr Sohn ist neun. Interessiert er sich für Ihre Arbeit?
Ich hoffe nicht. Er mag Fußball, und ich halte ihn von der Kunstwelt fern. Auf Ausstellungen gibt es ein Phänomen, das mir sehr unangenehm ist. Weil niemand genau weiß, aus welcher Richtung der Wind kommt, gibt es diesen ironischen, leicht hochgepeitschten Tonfall. Sagt jemand was, suchen die anderen Augenkontakt miteinander, um zu entscheiden, ist das jetzt cool oder nicht? Kennt man etwas nicht, tut man so, als würde man es kennen und ein Urteil haben. Dieses von oben herab kommende Urteil hält man aber ironisch in der Schwebe, um es jeden Moment wieder ändern zu können. Dieses uneigentliche Sprechen macht mich hilflos und aggressiv. Da ist mir jemand lieber, der ein tölpelhaftes Idiotenurteil von sich gibt.
Als Jörg Immendorff im Düsseldorfer »Parkhotel« von der Polizei mit neun Prostituierten und 11,6 Gramm Kokain erwischt wurde, meinte er, Maler bräuchten ein gewisses Maß an Orientalismus.
Ich befürworte Rausch und Ekstase und Hysterie und Übertreibung, aber der Orientalismus im Geiste von Immendorff interessiert mich überhaupt nicht. Ausschweifung ja, aber bitte nicht so.
Nur Drogen nehmen?
Ich lege jedem LSD ans Herz, wenn er erwachsen ist und keine Neurosen hat, die er verdrängen muss. Ich bin ein Gegner von Kokain und Heroin, sowohl wegen ihrer Wirkung als Droge als auch als Politikum. Amphetamine habe ich gern genommen. Die kristalline Härte und dieses Zähnezusammenbeißen und das irre Manisch-Aggressive daran habe ich wirklich sehr gemocht.
Wie erreichen Sie ohne Drogen Rausch und Ekstase?
Das geht niemanden etwas an.
Am 9. Oktober beginnt in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt eine Ausstellung mit neuen Bildern von Ihnen. Sie haben Ihre Methode zu malen geändert.
Vor drei Jahren kam ich nach zwei Monaten Abwesenheit in mein Atelier zurück und schaute mir drei Bilder an, die fast fertig waren. Beim Versuch, sie fertig zu malen, merkte ich, das langweilt mich, das ist Schema F, Gewohnheit richtet sich gegen Erkenntnis. Ich habe dann sehr lange mit sehr wenig Erkenntnis rumexperimentiert, mit trübsinniger Laune, Denkpickeln und ohne Trost im Alkohol zu finden. Es gibt Leute, die heiter etwas Neues entwickeln können. Das ist mir nicht gegeben. Dafür sind die Bilder umso besser geworden.
Sie haben den Pinsel aus der Hand gelegt und die Farbe gespachtelt.
Das war wie im Nebel sein, und auf einmal kommt scheinbar aus dem Nichts der Blitz. Der Blitz war aber das Ergebnis einer quälenden methodischen Selbstbefragung: Wie viel Reduktion ist möglich, und wie viel Bedeutung kriege ich da gleichzeitig rein? Das Handwerkszeug sollte mich nicht bestimmen. Da ich immer mit dem Pinsel gearbeitet hatte, habe ich ihn weggelegt, denn der Pinsel macht mit mir, was er will. Der Pinsel ist mein Chef.
Warum trägt Ihre Ausstellung den Titel Hello, I Love You?
Weil ich geliebt werden möchte. Liebe ist wahrscheinlich neben Emotion, Feeling und Power das am meisten sinnentleerte Wort, das es gibt. Trotzdem ist zu lieben und geliebt zu sein Sinn und Zweck des Lebens – neben Erkenntnis.
Fotos: Andy Kania