Dreißig Cent pro herzhaftem Lacher - da zahlt sich Humor wirklich mal aus.
Am Abend des Experiments tritt Angel Galán auf die Bühne und findet sich in seinem Alptraum wieder. Vor ihm steigen die Sitzreihen in den Saal, auf jedem Platz sitzt jemand, volles Haus. Aber keiner schaut ihn an. Alle blicken auf Bildschirme, die im Dunkel auf ihre Gesichter schimmern. Galán beginnt zu spielen. Keine Reaktion. Ein Saal voller Zuschauer, die ihm nicht zuschauen. In diesem Augenblick fragt sich der Komiker Angel Galán, ob es eine gute Idee gewesen war, in dieses Experiment einzuwilligen.
Wer das erste Mal von diesem Einfall hört, reagiert, wie auch Galán anfangs reagierte: Eintritt frei, aber jeder Lacher kostet dreißig Cent? Muss ein Witz sein. Es ist aber kein Witz.
Spanien, Anfang 2014. An den Theatern des Landes geht die Angst um. Getrieben von der Finanzkrise, hat die Regierung zwei Jahre zuvor die reduzierte Umsatzsteuer auf ausgewählte Kulturgüter abgeschafft: Auf jede Theaterkarte werden nicht mehr acht, sondern 21 Prozent Umsatzsteuer aufgeschlagen. Jetzt, nach dem ersten Jahr mit neuem Steuersatz, haben die Theater im Schnitt ein Drittel ihrer Zuschauer verloren. Das Teatreneu in Barcelona, ein Club für Kleinkunst und Comedy, ruft eine Legende zu Hilfe – Leandro Raposo.
Raposo hat langes, wildes Haar, einen Bart und eine Stimme, so rau, als gurgle er morgens mit Rasierklingen. Er ist Kaufmann für Marketingkommunikation. In der Welt der Werbung genießt Raposo einen legendären Ruf: Er ist das Kind der Krisen. Als er in seiner Heimat Argentinien arbeitet, taumelt das Land durch schwere Rezessionen in den Staatsbankrott. Als er als Kreativdirektor in New York anfängt, stürzen in seiner ersten Arbeitswoche die Türme des World Trade Center ein. Amerika, Asien, wo immer Raposo Werbung machen soll, schlägt ihm ein Wort entgegen: Krise! Doch er trotzt seinen ängstlichen Kunden Werbespots ab, die Träumen ähneln. In einem erfolgreichen Spot für eine Fluglinie fängt ein Junge den Schatten eines Flugzeugs ein, und es fliegt nicht mehr, bis er auf Bitten der Piloten den Schatten wieder frei lässt. 2008 geht Raposo nach Spanien. Was soll in Europa schon passieren? Kaum ist er da, beginnt die Eurokrise. Spanien stürzt in die schlimmste Rezession seiner Geschichte.
Wie als Antwort auf seine Arbeit im ständigen Ausnahmezustand dreht Raposo damals einen Spot für eine Limonade: Er sucht eine Schwangere, nur noch Tage vor der Geburt, und den ältesten Mann Spaniens. Als die Wehen einsetzen, fliegen sie den Greis ein, er tritt an die Wiege des gerade geborenen Säuglings und flüstert: »Sie werden sagen, dass du dir eine schlimme Zeit ausgesucht hast, um auf die Welt zu kommen. Krisen überall … Keine Hoffnung … Ich lebe schon 102 Jahre lang, ich verspreche dir: Am Leben wird dir nur eines nicht gefallen – dass es dir zu kurz vorkommt. Verschwende keine Zeit. Du bist hier, um glücklich zu sein.« Danach hat Raposo seinen Ruf weg. Egal welche Krise, dieser Typ findet eine kreative Antwort darauf. Auch das Teatreneu hofft auf ein Wunder. Raposo, der gerade eine Agentur namens »The Cyranos« gegründet hat, nimmt den Auftrag an. Eine Kleinkunstbühne? Interessant.
Raposo setzt seinen Seher darauf an, in der Sprache der Werbung: seinen »Leiter Strategische Planung«. Oriol Bombí ist ein Weggefährte Raposos. Kleinkunst, das klingt für Bombí wie Musik, wie Literatur, wie Film – verkarstete Geschäftsfelder der Kultur, denen der digitale Wandel das Wasser abgräbt. Er ruft seine Leute zusammen. Sie wälzen Ideen.
Was hat die Musik gemacht? Die Musik hat gar nichts gemacht. Es waren Firmen wie Apple oder später Spotify, die darauf kamen, Lieder anders zu
verkaufen – Apple bot sie für 99 Cent stückweise an, Spotify dann nicht mehr die Lieder selbst, sondern den digitalen Zugriff darauf, im Abo, für 9,99 Euro im Monat.
Was hat die Literatur gemacht? Die Literatur hat gar nichts gemacht, es waren Firmen wie Amazon oder Apple, die Bücher anders verkau–
Der Gedanke kommt so jäh, dass keiner weiß, ob er genial oder bescheuert ist: Wir bauen der Kleinkunst ein neues Geschäftsmodell.
Was wollen die Leute da? Lachen.
Wie verkaufen wir Lachen? Pro Stück.
Was soll ein Lacher kosten?
Raposo und Bombí rufen ihrerseits einen Spezialisten zu Hilfe: einen jungen Professor der Ökonomie, Pedro Rey. Sie sorgen sich. Zuschauer pro Lacher zahlen lassen, vielleicht nur eine verrückte Idee. Aber Rey ist elektrisiert. Sein Feld ist die Verhaltensökonomie – ein Bereich, in dem die strengen Dogmen seines Fachs im Experiment auf ihr Studienobjekt prallen: den Menschen. Meistens zerschellt das Dogma dann am Menschen. Er verhält sich nicht so rational, wie es die Wirtschaftswissenschaft gerne hätte. Ein Ökonom wie Pedro Rey liebt Experimente. Pro Lacher zahlen! Das ist gut, das ist genial, das ist ein radikaler Ansatz in der Preisdifferenzierung, und das bei einem Erfahrungsgut, wie es der Witz eines Kleinkunstabends ist!
Rey führt Raposo und Bombí durch die Theorien, auf denen ihre Idee in den Augen der Ökonomie fußt. Ein Theaterbesuch ist eine knifflige Ware: Ein Zuschauer weiß erst hinterher, ob ihm gefällt, was er bezahlt hat. Auch Bücher oder Filme zählen zu solchen Erfahrungsgütern. Ein guter Verkäufer versucht, die Unsicherheit des Käufers zu verringern. Eine Methode: Lass den Käufer Einfluss auf den Preis nehmen. Ökonomen sprechen von partizipativen Preismechanismen. Es gibt eine gute Handvoll davon, darunter das radikalste Modell der Preisbildung, das die Wirtschaft kennt.
Im Rotwelsch der Ökonomen heißt es PWYW: Pay what you want – zahl, was du willst. Der Käufer legt den Preis fest, nachdem der Verkäufer vorher erklärt hat, jeden Preis zu akzeptieren. Klingt für klassische Ökonomen wie Ketzerei: Jeder Käufer, der nicht dumm ist, setzt den Preis doch auf Null und zahlt gar nichts! Verhaltensökonomen wie Rey wissen: Kann funktionieren. Der Mensch hat ein feines Gespür für einen fairen Preis, und Feldversuche zeigten: Ein beträchtlicher Teil der Käuferschaft ist auch dann bereit, ihn zu zahlen, wenn sie es nicht müssten.
Das Lachen hat einen Wert. Das Lachen ist digital darstellbar. Das Lachen hat eine App.«
Ihre verrückte Idee, erklärt Rey den beiden Werbern, ist vielleicht gar nicht so verrückt. Sondern eine neue Spielart von PWYW, die den Käufer den Preis setzen lässt. Über den Weg des Lachens hat das allerdings noch niemand versucht. Die Wirtschaftswelt hat keine Ahnung vom Lachen.
Um das Lachen einer quantifizierenden Analyse zu unterziehen, setzt sich der Professor kontrolliert der Komik aus. Er bietet den Besuchern des Teatreneu einen seltsamen Anblick: Ein Mann mit Block und Bleistift sitzt mal in dieser, mal in jener Show und notiert jeden Anflug von guter Laune. Rey will wissen, wie viel gelacht wird und in welcher Qualität: Lächeln, Schmunzeln, vollwertiges Lachen, Lachsalve, Lachanfall. Aus diesen Daten destilliert er einen Wert von dreißig Cent pro herzhaftem Lacher. Raposos Agentur nickt diesen Preis als fair ab.
Währenddessen arbeiten Programmierer an einer technischen Lösung, Lachen zuverlässig zu erkennen. Sie stampfen ein Programm aus dem Boden, das auf Tabletcomputern läuft. Die Geräte haben eine hochauflösende Kamera eingebaut, die als Sensor einer Gesichtserkennung dienen kann. Sie verwenden FaceTracker, einen simplen Programmiercode, schalten einen Emotions-Detektor plus Impulszähler auf, betten alles in eine iOS-App – fertig. Sie taufen die Software PPL: »Pay per Laugh«.
Anfang April 2014 sind sie bereit. Das Lachen hat einen Wert. Das Lachen ist digital darstellbar. Das Lachen hat eine App. Jetzt brauchen sie noch jemanden, der mutig und witzig genug ist, auf der Bühne gegen das System anzuspielen.
Im Teatreneu treten Magier auf, Komiker, Illusionisten, es gibt Musicals, Cabaret, Pantomime und Comedy mit Papp-Penissen. Allen ist klar: So ein Experiment stemmen nur Angel Galán und sein Ensemble. Sie spielen seit zehn Jahren am Teatreneu, zum Teil sieben Tage die Woche. Sie machen Improvisationstheater, die schnellste Form der Kleinkunst: Das Publikum sagt an – ein Wort, ein Satz –, und die Schauspieler springen sofort in die Szene und spielen. Kein vorbereiteter Text. Keine Kulisse. Keine Regie. Wenn es gut läuft, erzeugt Improvisation einen Sog, der ein Publikum mitreißt wie kein Theater sonst. Wenn es schlecht läuft, saufen die Schauspieler in der Schadenfreude der Zuschauer ab. Das Ensemble »Planeta Impro«, das Angel Galán mit einem Freund gegründet hat, ist eine Macht auf diesem Feld. Manchmal bauen sie auf der Bühne einen Boxring auf und treten gegen-einander an, eins gegen eins, meins gegen deins. Als die Agentur anfragt, zögern sie kurz. PPL, das ist kein Witz? Na dann, machen wir.
Am Abend des 10. April stehen Trauben von Menschen vor dem Tea-treneu. Eine Show, wo man nur so viel zahlt, wie man auch wirklich lacht! Die Agentur hat den Saal aufgerüstet, an jeder Rückenlehne hängt jetzt ein Tablet. Sobald das System läuft, wird sich jeder Zuschauer selbst auf seinem Bildschirm sehen, wie im Spiegel. Hinter der Bühne sind Galán und seine drei Mitstreiter aufgeregter als sonst. Dann ist es so weit. Acht Uhr abends. Showtime. Sie fassen sich an den Schultern, das alte Ritual, wie vor jedem Auftritt: Auge in Auge, und ich sage, ich baue auf dich, und du sagst: Und ich baue auf dich. Sie stürmen auf die Bühne und – ein Albtraum.
Die ersten Minuten erlebt Galán wie entrückt. Was die erste Szene ist, was der erste Lacher, er weiß es heute nicht mehr. Er weiß nur noch, dass sie kämpfen. Ist ein vertrautes Gefühl. Angel Galán hat im Straßentheater angefangen, wo ein Witz treffen muss wie ein Faustschlag. Später arbeitete er lange als Clown. Auch als Clown muss man kämpfen. Also kämpfen sie. Sie müssen diese Maschinen vergessen machen. Und dann, plötzlich, kippt es. Ein Gesicht blickt auf, ein zweites, dann eine ganze Reihe. Dauert es fünf Minuten? Zehn? Galán ist sich nicht sicher. Aber auf einmal spürt er einen vertrauten Sog. Sie packen das Publikum. Irgendwann haben sie es so im Griff, dass sie nach schönen Lachern rufen: Den berechnen wir euch!
Die Daten, die das System danach auswirft, sind gut. Sie haben eine Stunde gespielt und im Schnitt 48 Lacher pro Zuschauer erzielt. Manche lachten vier Mal. Manche lachten 147 Mal. Die Agentur hatte mit solchen Ausreißern gerechnet und das System gedeckelt: Niemand muss mehr als 80 Lacher bezahlen, das macht 24 Euro.
Zwei Monate später gewinnt Raposos Agentur mit »Pay per Laugh« acht Auszeichnungen auf dem Festival der Werbung in Cannes, den »Cannes Lions«. Sie hat das System in einem Film präsentiert: lachende Menschen, klingelnde Kassen, prächtige Zahlen. Der durchschnittliche Preis pro Ticket, die Einnahmen pro Show, die Zuschauerzahl – alles sei durch »Pay per Laugh« gestiegen. Es entsteht der Eindruck, das Geschäftsmodell sei nun voll im Einsatz. Das stimmt aber nicht. »Pay per Laugh« ist, was es von Anfang an war: ein Experiment. An einem einzigen Abend durchgeführt. Während zweier Auftritte. Die Tablets: gemietet. Die Software: noch zu grob auf Lachabstufungen justiert. Agentur und Theater hatten vor, das System im Sommer auf Dauer einzuführen, schafften es aber nicht; nun haben sie sich das Frühjahr 2015 vorgenommen.
Es ist egal. Die Geschichte ist schon groß. In Barcelona fragen Theater aus Südkorea, den USA und Finnland an, die aus Lachen Geld machen wollen. Unternehmen wünschen, die Software des Lachens zu übernehmen, denn es könnte viel Profit in Programmen stecken, die Gefühle erkennen: Wie müde ist jemand, wenn er etwas liest, wie lächelt er, wenn er eine Werbung sieht, wie wütend wird er in einer Warteschlange? Verhaltensökonomen fragen nach den Daten von Pedro Rey. Digitale Vordenker sehen ein Bilderbuchbeispiel einer technischen Innovation, Ökonomen ein Bezahlsystem der Zukunft, Schauspieler ein Schreckgespenst und Zyniker eine brillante Satire – wenn Kultur zu Geld gemacht wird, dann doch bitte Lacher für Lacher.
Anfrage an Raposos Agentur »The Cyranos«, die sich nach Cyrano de Bergerac benannte, weil er im Auftrag von anderen verführte, allein mit der Kraft seiner Worte: Was ist »Pay per Laugh« denn nun?
Die Agentur erklärt: Einfach eine wahre Antwort auf ein wahres Problem.
Illustration: Nishant Choksi