Als Julia T.* alles daransetzt, einen Platz für Lukas an einer sehr beliebten Grundschule in München zu bekommen, glaubt sie, das Allerbeste für ihren Sohn zu tun. Aber ein Jahr später sind Mutter und Sohn durch die Hölle gegangen. Der Junge, weil er von seiner Klasse fix und fertig gemacht wurde, und die Mutter, weil sie ihm nicht helfen konnte.
Dabei ist die Schule keine schlechte Schule. Sie befindet sich mitten in einem kinderreichen Viertel, das Schulhaus ist alt und ehrwürdig, auf dem Hof stehen kleine Hütten und Klettergerüste. Patenklassen empfangen die Erstklässler, und sogenannte Tröster gehen in den Pausen auf dem Schulhof herum, um sofort zur Stelle zu sein, wenn mal jemand hinfällt und sich wehtut. Für ihre vorbildliche Pädagogik wurde die Schule sogar ausgezeichnet. Und doch stand sie dem, was mit Lukas geschah, machtlos gegenüber: Mobbing kommt auch an den besten Schulen vor; und das Problem wird in deutschen Lehrerzimmern nach wie vor dramatisch unterschätzt. Entweder die Fälle werden gar nicht bemerkt, oder aber sie werden verdrängt. Dabei sind sie oft keineswegs harmlos. »Wenn Kinder mobben«, sagt Mechthild Schäfer, Entwicklungspsychologin der Universität München, »bedienen sie sich teilweise Methoden, für die man – wenn man strafmündig ist und angezeigt wird – ins Gefängnis wandern kann.«
Im Sommer 2002 zieht Julia T. mit Lukas von Hamburg nach München. Lukas ist vorher in Norddeutschland und im Rheinland zur Schule gegangen. Es hat nie Probleme gegeben. Er war kein brillanter, aber ein problemloser Schüler. Nun kommt Lukas, zehn Jahre alt, in die vierte Klasse der Münchner Grundschule. Die Lehrerin fragt ihn: »Wo kommst du her?« Er sagt: »Aus Hamburg.« Sie sagt, unbedacht: »Ach, dann kannst du ja sowieso nichts.«
Irgendwie war das der Anfang vom Ende, meint Lukas heute. Er ist jetzt 17 und sieht aus, wie 17-Jährige heute so aussehen: halblange Haare, die Jeans sitzt auf den Hüften. An der rechten Hand trägt er einen breiten silbernen Ring, den er selbst gemacht hat, er überlegt, vielleicht Goldschmied zu werden. Er wirkt sanft und spricht bedächtig. Er hat jetzt keine Angst mehr vor der Schule, aber es hat Jahre gedauert, bis er wieder Vertrauen fassen konnte in Mitschüler und Lehrer.
Im vergangenen Jahr hat er den Hauptschulabschluss gemacht, in diesem Jahr steht die mittlere Reife bevor – es hätte einen leichteren Weg für ihn geben können, wären seine Noten in der vierten Klasse nicht so schlecht geworden, dass es nicht einmal mehr für die Realschule reichte.
Nach dem Spruch der Lehrerin fangen die coolen Jungs aus der Klasse an, Lukas zu hänseln. »Du bist neu, du bist doof, du kannst nichts.«
Die Mädchen verhalten sich erst mal neutral. Ein Mitschüler ist nett zu Lukas. Doch nach einer Weile distanziert auch er sich. »Man muss sich entscheiden, ob man Täter oder Opfer sein will«, sagt ein Junge in einer Umfrage des Deutschlandfunks zum Thema Mobbing. Wenn man mobbt, geht man wenigstens sicher, nicht gemobbt zu werden – und ist außerdem nie allein. Denn es sind nie Einzelpersonen, die mobben, es sind nicht einfach böse oder schlecht erzogene Jungs oder Mädchen, es ist immer eine Gruppe, eine Klasse, ein System.
Die Jungs nehmen Lukas seinen Stift weg, und wenn er ihn sich wieder holen will, werfen sie ihn durch die Klasse und lachen sich kaputt. Sie klauen seine Schuhe und stecken sie ins Klo. Sie nennen ihn »Hurensohn« oder »Idiot«. Lukas sieht jünger aus, als er ist, er ist unsportlich und schüchtern – kein Kerl, der mit einem Spruch kontert, wenn er angegriffen wird, sondern einer, der verstummt.
»Die Täter zeichnen sich durch großes Geschick aus, potenzielle Opfer zu erkennen, und sie beschreiben die Merkmale eines Opfers so: Das sind die, die sich nicht wehren, nicht sehr stark sind und sich zu sehr fürchten, Lehrern oder ihren Eltern davon zu erzählen«, sagt Mechthild Schäfer. »Das Opfer wird mit jeder Episode mehr zur albernen Figur und ist in seinen Reaktionen zunehmend eingeschränkt.« Irgendwann kann der Betroffene überhaupt nichts mehr richtig machen.
Zu Hause erzählt Lukas wenig von der Schule. Das passt ins Bild: Nur die Hälfte der betroffenen Kinder berichten den Eltern, wenn sie in der Schule gemobbt werden. Sie haben das Gefühl, selbst an ihrer Situation schuld zu sein, und leiden unter Selbstwertverlust. Außerdem glauben sie nicht, dass sich die Situation verbessert, wenn Erwachsene sich einmischen. Und tatsächlich geraten die Eltern in eine sehr schwierige Position, da sie selbst so gut wie nichts machen können, sondern auf die Hilfe der Schule angewiesen sind. Dennoch kann überhaupt nur etwas geschehen, wenn die Probleme angesprochen werden.
Eines Mittags kommt Lukas als Letzter aus der Schule und wird auf dem Pausenhof zusammengeschlagen. Die Jungs lassen erst von ihm ab, als er am Boden liegt und ein paar Mädchen sagen: »Jetzt hört mal auf, das ist nicht mehr lustig.« Erst jetzt erzählt er, was passiert ist. In den Gesprächen mit den Lehrern und der Direktorin heißt es: »So etwas gibt es in jeder Klasse.« Einer der Rädelsführer wird in die Parallelklasse strafversetzt, doch die in der Klasse verbliebenen Jungs machen Lukas weiterhin fertig. Das Mobbing endet für Lukas erst, als er die Grundschule nach der vierten Klasse verlässt.
Wenn ein Schüler über längere Zeit gemobbt worden ist, sind die Folgen für ihn gravierend: Er ist traumatisiert, neigt verstärkt zu Depressionen und Selbstmordgedanken. Noch Jahre nach Abschluss der Schule pflegen ehemalige Mobbingopfer oft einen ängstlichen Beziehungsstil. Um Mobbing handelt es sich per Definition dann, wenn ein Kind – die Hauptbetroffenen sind zwischen acht und 14 Jahre alt – von einer Gruppe oder von der ganzen Klasse über einen längeren Zeitraum hinweg ausgegrenzt wird.
Bullying – so lautet die Bezeichnung für Mobbing im anglo-amerikanischen Raum – wird definiert als »Missbrauch von sozialer Macht auf Basis systematischer und wiederholter Attacken gegen Schwächere«. Fünfhunderttausend Mobbingopfer gibt es laut Statistik momentan an Deutschlands Schulen. Das wäre, einfacher ausgedrückt, ein Kind pro Schulklasse. Alle gängigen Schulformen sind gleichermaßen betroffen: Hauptschulen genauso wie Realschulen, Gymnasien oder Grundschulen.
Mobbing oder Bullying an Schulen ist kein neues Phänomen; so richtig ins Bewusstsein rückte es aber erst zu Beginn der Achtzigerjahre. Man kann nicht sagen, ob die Zahl der Mobbingopfer seitdem tatsächlich gestiegen ist, es werden aber mehr Fälle gemeldet als früher. Und es scheint, als wären die Methoden der Kinder härter geworden.
Peter Silbernagel, Vorsitzender des Philologenverbandes in Nordrhein-Westfalen, sagt, Kinder seien heute mitleidloser, weil das Bloßstellen zu einer Art Volkssport geworden ist: Wenn bei TV Total ein Mädchen eingeladen werde, weil sie mal vor der Kamera geweint hat, und man dazu das Lied Weine nicht, Michaela spiele, werde das Mädchen zur Unterhaltung anderer verhöhnt. Wie sollen Kinder ermessen lernen, wie schmerzhaft eine Situation für die Betroffenen ist, wenn sich alle Welt an der Demütigung von Menschen in Germany’s Next Topmodel ergötzt?
Wenn Dutzende Sendungen Wettstreit, Konkurrenzdenken, Ausgrenzung, Ellbogen- und Zickenmentalität propagieren, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Jugend eines Landes solche Methoden verinnerlicht und radikalisiert. Dazu kommt, dass durch das Internet völlig neue Mobbingmethoden überhaupt erst möglich werden. Das sogenannte »Cyberbullying« ist besonders leicht, die Hemmschwelle extrem niedrig, weil es keinen Mut und keine Auseinandersetzung erfordert.
Man muss dem Opfer nicht mehr in die Augen sehen, kann seine Demütigungen anonym platzieren. Die Attacken sind virtuell, hinterlassen aber echte Wunden: Im Sommer des vergangenen Jahres erhängte sich die 13-jährige Amerikanerin Megan Meier, weil sie sich in ihre Internet-Bekanntschaft Josh verliebt hatte und nach kurzer Zeit von ihm so gekränkt wurde, dass sie nicht damit fertig wurde. Doch Josh gab es gar nicht: Die Mutter ihrer ehemals besten Freundin, die sich an Megan rächen wollte, hatte sich diesen fatalen Scherz einfallen lassen.
Gegen ein Mädchen mit dem Online-Namen »Chrissi« wurde im Internetforum »SchülerVZ« eine ganze Gruppe gebildet, um das Opfer kollektiv zu beschimpfen und zu demütigen; ein Jugendlicher aus dem Kreis Trier/Saarburg ließ sich filmen, wie er einen anderen brutal gegen das Kinn trat, und stellte das Video ins Netz; Schüler montieren die Köpfe von Mitschülerinnen in Pornofilme und veröffentlichen sie bei Youtube.
Die Täter geben meist an, dass ihnen nicht bewusst gewesen sei, wie verletzend ihre Handlungen waren. Eine Umfrage der Universität Koblenz ergab: Jeder fünfte Schüler zwischen sechs und 19 Jahren war schon einmal Opfer von Cyberbullying.
Wenn Kinder andere Kinder fertigmachen, geht es um die Demonstration von Macht und Überlegenheit. Die Täter haben meist ein schwaches Selbstbewusstsein. Um eigene Defizite zu überspielen und ihren Status aufzuwerten, suchen sie sich physisch oder psychisch Schwächere als Opfer aus und nutzen ihre manipulativen Fähigkeiten gegenüber den Mitschülern, um soziale Macht in der Klasse zu gewinnen. Je hierarchischer ein System ist, desto erfolgreicher kann Macht missbraucht werden – unter Erwachsenen gibt es Mobbing besonders im Arbeitsleben, beim Militär, im Gefängnis.
Diese Erkenntnis hat einen in England sehr erfolgreichen pädagogischen Ansatz hervorgebracht, der die Suche nach der Schuld einzelner Täter ablehnt: Der »No Blame Approach« basiert auf der Theorie, dass es keinen Sinn hat, die Aggressoren an den Pranger zu stellen – Strafmaßnahmen und Schuldzuweisungen stärken das Mobbing nur. Zweitens: Es gibt keine Rechtfertigung für Bullying, egal, wie sich ein Schüler verhält. Und wie ernst es ist, kann nur derjenige ermessen, der gemobbt wird. Drittens: Es wird nicht nach den Ursachen des Mobbings geforscht, sondern an das Gute im Menschen appelliert:
Der Lehrer – übrigens die zentrale Figur der »No Blame«-Methode – stellt eine Gruppe aus Tätern und Mitläufern zusammen und fordert sie auf, ihm dabei zu helfen, das Opfer wieder zu einem glücklicheren Menschen zu machen. Er fragt das Opfer, ob es möchte, dass er hilft. Wenn das Opfer zustimmt, stellt der Lehrer eine Gruppe von sechs, sieben Schülern zusammen, bestehend aus denen, von denen sich das Opfer am meisten und am wenigsten bedroht fühlt, und aus Schülern, die sich der Lehrer aussucht.
Dieser Gruppe wird nun erklärt, dass ein Schüler sehr unglücklich in der Klasse sei und dass man ihm gemeinsam helfen müsse. Nun wird die Gruppe gefragt, was man tun könnte. Meistens kommen von den Schülern sofort Vorschläge: Man könnte sich mal in der Pause zum ihm stellen oder: »Ich könnte ja mal mit ihm nach Hause gehen.« Bevor sich die Gruppe wieder trennt, macht der Lehrer jeden Einzelnen dafür verantwortlich, dass sich der Schüler in der Klasse bald besser fühlt. Eine Woche später trifft man sich wieder – und untersucht, ob schon Erfolge zu verzeichnen sind. Für eine Studie der Organisation »Aktion Mensch« wurde die Methode gerade bei 220 Fällen in Deutschland angewandt – mit einer Erfolgsquote von 87 Prozent.
Auch die Psychologin Mechthild Schäfer glaubt, dass bei solchen gruppendynamischen Problemen besonders die Lehrer und nicht unbedingt die Eltern gefragt sind: »Lehrer sollten eine Intervention bei Mobbing nicht wie bisher als Zusatzaufgabe, sondern als Bestandteil ihrer Rolle betrachten.« Sie schlägt eine eindeutige Rechtsgrundlage vor, die die Verantwortung von Lehrern und Schulen formuliert – etwa wie in Schweden, wo Schulen ein Mobbing-Bekämpfungskonzept vorlegen müssen und mit Konsequenzen zu rechnen haben, wenn Kinder bei der zuständigen Ombudsfrau das Versagen der Schule einklagen.
Maximilian, elf Jahre alt, wäre so ein Kandidat. Maximilian ist hochbegabt, er spielt nicht Fußball, sondern reitet und liest Sachbücher über den Holocaust. Maximilian ist vier Jahre lang in der Grundschule von seinen Mitschülern gequält worden, obwohl er dort einmal sogar die Klasse gewechselt hat. »Als die Mitschüler in der neuen Klasse von seinen Hobbys erfuhren, war es dort auch sofort vorbei«, sagt seine Mutter. Seit Sommer 2008 besucht Maximilian eine Realschule in der Nähe von Wolfsburg und wird weiter schikaniert. Zwei Jungs aus seiner Grundschule sind wieder in seiner Klasse.
Maximilian ist als Hurensohn, Stück Scheiße, Arschloch, Scheißbullensohn, Idiot beschimpft worden. Seine Mitschüler haben ihm ins Gesicht gespuckt, ihn im Handarbeitsunterricht mit Nadeln gestochen, ihm in den Arm gebissen, sodass die Wunde verbunden werden musste, und sie haben ihm einen Zahn ausgeschlagen. Ein Lehrer hat mal zu Maximilian gesagt: »Dann darfst du halt nicht so schlau tun«, ein anderer hat ihn »verwöhntes Früchtchen« genannt.
Maximilian antwortet auf die Frage, wie es ihm geht: »Nicht so prickelnd.« Er ist ein Zyniker – mit elf Jahren. Er hält die Kinder, die ihn plagen, mittlerweile für minderbemittelt. »Reden bringt bei denen nichts.« Wenn seine Mutter ihn morgens wecken will, öffnet sie eine Tür, auf die Totenköpfe gemalt sind, daneben steht: »Weckt mich nicht!« Wenn man sein Zimmer betritt, muss man Angst haben, dass seine aus Legosteinen gebaute Selbstschussanlage losgeht. »Ich gehe dem Mobbing aus dem Weg, indem ich oft nicht in die Schule gehe«, sagt Maximilian.
Die Schule stellt fest: »Maximilian ist seit Beginn des Schuljahres Schüler unserer Schule. Wir wurden gleich in den ersten Wochen von den Eltern über Maximilians ›Anderssein‹ informiert. Sehr bald wurden Fehlzeiten, Konflikte und sein Verhalten anderen gegenüber auffällig.« Die Schule verfuhr nach Vorschrift: Sie forderte Maximilian auf, ein Mobbingtagebuch zu führen. »Seine Aufzeichnungen waren aber wenig konkret. Die Vielzahl der Vorwürfe machte eine detaillierte Aufarbeitung unmöglich.«
Weil Maximilian die Beratungslehrerin nur zweimal aufgesucht hat, weil er immer wieder fehlt und die Schule meint, die Eltern würden es ihm zu leicht machen; weil er konfliktfreie Beziehungen zu fünf bis sechs Jungen aus der Klasse hat und »höchst sensibel und unvorhersehbar reagiert, wobei er auch andere ärgert und provoziert«, kann die Schule ein »systematisches Mobbing nicht verifizieren«.
Maximilian bezeichnet sich als »dauerpessimistisch«. Es ist also davon auszugehen, dass er leidet und dass sein Leid nur von ihm allein zu ermessen ist. Außerdem ist davon auszugehen, dass Eltern sehr hilflos sind in einer solchen Situation. »Im letzten Monat haben wir ihn jeden Morgen zur Schule gebracht, weil wir Angst hatten, dass er sich etwas antut, wenn wir ihn allein losschicken«, sagt seine Mutter.
Längst wirken sich Maximilians Schulprobleme auf die ganze Familie aus. Sein Vater will ihn morgens zwingen, in die Schule zu gehen. Maximilian flippt aus, wird aggressiv, auch gegen die beiden älteren Schwestern. Oder er verzweifelt und wendet sich Hilfe suchend an seine Mutter. Aber die verstummt nur. Was soll sie tun? Sie spürt die Nöte ihres Sohnes und ist trotzdem machtlos.
Ob er sich wünscht, in eine Klasse zu gehen, in der er gemocht wird? Maximilian überlegt: »Ich glaub schon. Aber ich glaub, das geht nicht mehr.« Was würde er sich denn überhaupt wünschen? Maximilian überlegt wieder. Soll er cool sein, den Zyniker geben? Das kann er doch so gut. Aber dann sagt er: »Dass es einfach aufhört.« Pause. Und ergänzt, ganz leise: »Es wäre besser, wenn ich nicht existieren würde.«
Anmerkung der Redaktion:
Diese Geschichte war früher mit einem Foto bebildert. Weil gegen den Fotografen erhebliche strafrechtlich relevante Anschuldigungen erhoben werden, haben wir uns entschlossen, seine Fotos nicht mehr zu zeigen und sie aus dem Artikel zu entfernen.