Ein Haus in den Hollywood Hills von Los Angeles, fünf Autominuten oberhalb des Sunset Boulevards. Von der Terrasse aus könnte man, wenn nicht einer der Hügel die Sicht versperren würde, die weltbekannten Buchstaben des »Hollywood«-Schildes sehen, sie sind nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt. Noch viel näher jedoch liegt ein Schild, das genauso berühmt und zweifellos geschichtsträchtiger ist. Denn in der Garage des Hauses von Alan Wolan, dem 50-jährigen Inhaber einer Werbeagentur, steht die »You are leaving the American Sector«-Hinweistafel vom Checkpoint Charlie, die auf der Friedrichstraße in Berlin 29 Jahre lang den Grenzübergang markiert hat. Wolan hat sie zusammen mit drei Freunden im Sommer 1990 gestohlen.
Wie kommt dieses historische Schild, neben der Mauer das materielle Symbol des Kalten Krieges schlechthin, ins fast 10 000 Kilometer entfernte Kalifornien? Steht es nicht seit fast 25 Jahren im Museum, als prominentes Exponat der öffentlichen Erinnerung an die deutsche Wiedervereinigung? Wer heute das »Haus am Checkpoint Charlie« besucht, jene überquellende Ausstellung, die in Berlin die Darstellungshoheit über die Ereignisse an den Berliner Grenzübergängen besitzt, kann in einem Sonderraum auch die viersprachige, ursprünglich auf gut zwei Meter hohen Holzpfosten angebrachte Hinweistafel sehen. Nach Angaben des Museums ist es das Originalschild, das bis Anfang 1991 dort gestanden habe. »Es wurde uns ein paar Monate nach der Auflösung des Checkpoint Charlie im Juni 1990 von der amerikanischen Militäradministration übergeben«, sagt Alexandra Hildebrandt, die heutige Direktorin. Von einem Diebstahl hat sie nie gehört. (Am unteren linken Rand des Schildes im Museum ist eine kleine »16« angebracht, ein Kennzeichen, das in diesem Detektivspiel der Zeitgeschichte noch eine Rolle spielen wird.)
Alan Wolan arbeitet im Frühsommer 1990 direkt am Checkpoint Charlie. Er betreibt dort ein Geschäft für Berlin-T-Shirts und abgepackte Mauer-Splitter. »Gleich am 9. November 1989, als ich in New York die Bilder aus Deutschland im Fernsehen sah«, erzählt er, »habe ich mich entschieden, dorthin zu gehen. Mir war klar, dass Tausende von Touristen im kommenden Jahr nach Berlin kommen würden. Der Laden würde eine Goldgrube sein.« Er ist damals Mitte zwanzig, kündigt seinen Job in einer Werbeagentur, zieht nach Berlin, in eine kleine Wohnung in Neukölln, und findet nach längerer Suche einen Laden an der Ecke Friedrich- und Kochstraße, im
unbenutzten Nebenraum einer türkischen Bäckerei. Sein Geschäftskonzept geht auf: Mit seinen Wiedervereinigungs-Souvenirs verdient er schon innerhalb weniger Monate ein kleines Vermögen.
Am 22. Juni findet praktisch vor Alan Wolans Ladentür der feierliche Abbau des Grenzpostens statt, in Anwesenheit der vier alliierten Außenminister. Die historische Kontrollbaracke wird mit einem Kran abtransportiert (und ist heute im Alliiertenmuseum in Dahlem ausgestellt). Als die Festlichkeiten, ein wichtiger symbolischer Schritt auf dem Weg zur Einheit Berlins und Deutschlands, an diesem Tag vorbei sind, ist das Epizentrum des Kalten Kriegs, der Grenzübergang für Ausländer und Diplomaten, auf seiner westlichen Seite verwaist. Kein amerikanischer Soldat bewacht mehr jene Schleuse, die nicht nur die Berliner Bezirke Mitte und Kreuzberg, sondern auch zwei Weltsysteme teilte. Alan Wolan hat noch etwas länger in seinem Laden zu tun, und als er entdeckt, dass die Hinweistafel im Gegensatz zum Grenzhäuschen noch nicht abtransportiert wurde, konkretisiert sich in seinem Kopf eine irrwitzige Idee.
»Ich hatte mit dem Gedanken schon bald nach der Eröffnung des Ladens gespielt: Wäre es nicht das Größte, dieses Schild zu besitzen? Ich weiß auch nicht, warum es den Festakt unbeschadet überstanden hat.« Der Historiker Florian Weiß, im Alliiertenmuseum für Amerika zuständig, begründet dieses Rätsel damit, dass die Schließung des Grenzpostens damals allzu flüchtig geplant wurde, im Rahmen eines kurzfristig anberaumten Außenministertreffens. Die Einbeziehung des Schildes in den feierlichen Abbau wurde vermutlich einfach vergessen. Alan Wolan jedenfalls besorgt kurz vor Ladenschluss ein paar Sägen im Baumarkt und mietet einen Transporter bei Robben & Wientjes an. Dann telefoniert er mit seiner deutschen Freundin und einem Bekannten, der ihn mit T-Shirts beliefert; er sagt ihnen, dass die lang angekündigte Idee nun Wirklichkeit werden könnte. »Wir saßen bis zum späten Abend in Kneipen herum, Dörte, Matthias, seine Freundin Kirsten und ich.« Irgendwann fahren sie los, durch Kreuzberg in die Friedrichstraße, stellen den Transporter an der Ecke Zimmerstraße ab und packen ihr Werkzeug aus.
»Das Absägen dauerte vielleicht 15 Minuten. Alles lief glatt – außer dass wir zwischendurch plötzlich sahen, dass zwei junge DDR-Soldaten vom östlichen Teil des Grenzpostens, der ja noch besetzt war, auf uns zukamen.« Sie verstecken die Sägen, tun so, als ob sie amerikanische Touristen auf einem nächtlichen Spaziergang wären, und schaffen es tatsächlich, ihre Aktion zu verheimlichen. Als Wolan und seine »partners in crime«, wie er sie heute noch nennt, fertig sind, laden sie die massive Holztafel in den Transporter und fahren damit zu Kirsten. Ihr Apartment ist am wenigsten hoch gelegen, im ersten Stock. Dort steht das Schild die ers-te Zeit, bevor die vier es in die unter dem Dach gelegene Wohnung Alans hinauftragen. Hier, in einer unaufgeräumten Garage in Los Angeles, 25 Jahre später und 10 000 Kilometer entfernt, kann man sich an Ort und Stelle davon überzeugen, wie schwer diese Arbeit gewesen sein muss. Das Schild lässt sich zu zweit kaum anheben.
Tatsächlich führt der Versuch, offizielle Spuren dieser Nacht zu entdecken, ins Nichts.
An der Ziffer »16« links ist erkennbar, dass das Schild, das heute als Original im Haus am Checkpoint Charlie steht, nachträglich angebracht worden sein muss.
Seit einem knappen Vierteljahrhundert ist eines der Wahrzeichen der deutschen Teilung also der offiziellen Erinnerungskultur entzogen. Kaum jemand hat diese Lücke seither bemerkt. In Online-Foren von Militaria-Sammlern findet sich zwar immer wieder das hartnäckige Gerücht, ein junger Amerikaner hätte 1990 das Checkpoint-Charlie-Schild geklaut, und einem deutschen Journalisten hat Alan Wolan im Jahr 2000 sogar ein Interview unter Pseudonym gegeben, mit einer Ronald-Reagan-Maske auf dem Gesicht. Aber in der offiziellen Geschichte des Checkpoint Charlie und seiner Auflösung wird dieser Zwischenfall nicht erwähnt. Wolan und seine Freunde sagen, dass das bis zum 3. Oktober 1990 verantwortliche amerikanische Militär den Diebstahl damals nicht öffentlich machen wollte. »Schon am nächsten Tag wurde ein neues Schild anmontiert«, erinnert sich auch Matthias, der heute als Kunsthändler auf Hawaii lebt und bei einem unangekündigten Telefonat sofort die Einzelheiten dieser Nacht parat hat. Seinen Nachnamen möchte er aber lieber nicht in der Zeitung lesen, weil er immer noch unsicher ist, ob er für die Tat von der deutschen oder amerikanischen Justiz belangt werden könnte.
Tatsächlich führt der Versuch, offizielle Spuren dieser Nacht auf den 23. Juni 1990 zu entdecken, ins Nichts. Weder die Senatsverwaltung weiß heute noch etwas von einem Diebstahl noch die Polizei oder Journalisten, die damals über den Checkpoint Charlie geschrieben haben. In den Archiven der Westberliner Zeitungen – Tagessspiegel, taz, B.Z., Berliner Morgenpost – findet sich keine Zeile über eine abgesägte Hinweistafel. Dennoch sind die Indizien gewichtig, dass Alan Wolan die Wahrheit sagt und sein Schild mit höherer Wahrscheinlichkeit als das Museumsexemplar in der Zeit des Mauerfalls am Checkpoint Charlie stand. Die Details der Geschichte, die Alan und Matthias nach 25 Jahren unabhängig voneinander erzählen, sind zu ähnlich, um auf einer Erfindung zu beruhen. Und dann gibt es ja noch die Nummern am unteren linken Rand, die die Hinweistafeln identifizierbar machen.
Jedem Schild entlang den Grenzen des amerikanischen Sektors in West-Berlin war eine eigene Nummer zugeordnet. »Die Zählung begann am Potsdamer Platz«, sagt Florian Weiß. Das Checkpoint-Charlie-Schild trug links unten gewöhnlich die »4«, wie man nicht nur auf Nahaufnahmen historischer Amateurfilme bei YouTube erkennen kann, sondern auch auf alten Zeitungsausschnitten im »Haus am Checkpoint Charlie« selbst. Von Zeit zu Zeit allerdings, wenn das Schild nach Beschmierungen oder zu hohem Verschleiß ausgewechselt werden musste, wurden aus dem Fundus der US-Militärbehörde vorübergehend Blankoschilder ohne Nummern aufgehängt. Auch zwischen November 1989 und Juni 1990, das belegen Touristenvideos auf YouTube, trug das Checkpoint-Charlie-Schild keine Nummer. Dies muss Alan Wolans Exemplar sein. Denn die Holztafel in der Garage trägt ebenfalls keine Kennzeichnung am unteren linken Rand. Das Exemplar mit der kleinen »16« schließlich, das heute als Original im »Haus am Checkpoint Charlie« steht, ist vermutlich jenes, das nach der Nacht auf den 23. Juni 1990 stillschweigend aufgestellt wurde. Zumindest hat es in all den Jahren zwischen 1961 und Juni 1990 nie eine Hinweistafel an diesem Ort mit der Nummer 16 gegeben.
Die historische Zeugenschaft von Dingen ist also komplexer als gedacht. Weder das offizielle Museum noch Alan Wolan besitzen wirklich das originale Checkpoint-Charlie-Schild, weil es im Lauf der Zeit mehrere Exemplare gegeben hat; wo zum Beispiel das letzte Schild mit der Nummer 4 verblieben ist, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Wenn der Zustand der Stadt in den elf Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung ohnehin von administrativer Überforderung geprägt war, dann galt dies auch für das fehlende Augenmerk auf der Sicherung und präzisen Identifizierung der wichtigsten Wahrzeichen der Wende.
Alan Wolan hat sein Schild in den letzten 24 Jahren trotzdem wie einen Schatz behandelt, im symbolischen wie im rein materiellen Sinne. Als er 1994 zurück nach New York zieht (nach weiteren lukrativen Jahren als Souvenirhändler und Inhaber eines Hot-Dog-Stands in der Schönhauser Allee), lässt er es in einem Container über den Atlantik verschiffen. Im Jahr 2010 dann kommt es im Umzugswagen mit in seine neue Heimat Los Angeles, wo Wolan mit seiner zweiten Frau und einer kleinen Tochter lebt; der Lieferschein des Transportunternehmens klebt heute noch auf der Folie, in die das Schild in der Garage gewöhnlich eingepackt ist.
Wolan spekuliert ein wenig darauf, das historische Souvenir zum 25. Jubiläum des Mauerfalls im nächsten Jahr für eine hohe Geldsumme an ein Museum oder einen Privatsammler zu verkaufen. Dieses Ziel, erzählt auch Matthias auf Hawaii, hätten sie schon am Tag des Diebstahls ins Auge gefasst; sie waren ja beide Geschäftsmänner, keine romantischen Abenteurer. »Die Aktion sollte damals so eine Art Altersvorsorge für uns sein«, sagt der Kunsthändler auf Hawaii, »wir haben uns in dieser Nacht auch alle vier das Ehrenwort gegeben, dass wir den Verkaufspreis gerecht aufteilen würden.« Alan und Matthias sind über all die Jahre in sporadischem Kontakt geblieben; auch Dörte, die inzwischen in Neuseeland lebt, ist zumindest eine Facebook-Freundin. Nur zu Kirsten hat niemand mehr eine Verbindung; sie soll geheiratet haben und unter neuem Namen als Einzige der Viererbande noch in Berlin leben.
Wie viel Geld müsste man Alan denn bieten für sein Schild, damit er sich nach so vielen Jahren von ihm trennen würde? »Damals haben wir gesagt, unter einer Viertelmillion Dollar verkaufen wir es nicht.« Und wenn kein vernünftiges Angebot kommen sollte, sagt er, hängt er das berühmte Checkpoint-Charlie-Schild einfach über das Sofa seines frisch renovierten Wohnzimmers. Dann würde es den amerikanischen Sektor wohl nie mehr verlassen.
Fotos: Getty; Sabina McGrew, Ralf Zimmermann