Der Widersinn des Lebens zeigt sich immer dann, wenn man Dinge tun muss, die man nicht tun möchte – dazu kann auch das Einkaufen gehören, besonders das Einkaufen von Kleidung, weil es einen regelmäßig an einen Abort des guten Lebens führt: in eine Fußgängerzone.
Es mag Boutiquen geben, die einen freien Vormittag mit federleichten Möglichkeiten füllen – man kann ein Sommer-, Cocktail- oder Abendkleid probieren, ein Glas Champagner dazu trinken oder es sein lassen. Die meisten Menschen aber gehen nicht in solche Läden, sondern begeben sich in eine von Handelsketten verschnürte Gerade, auf der sich zwischen jeder Vodafone- und Subway- auch eine H&M- oder Zara-Filiale befindet. Nur die Hälfte der Deutschen gibt an, dass sie dabei Spaß hat – und doch geben alle zusammen, die Reichen und das Bummelvolk, 70 Milliarden Euro im Jahr für Kleidung aus. Das ist siebenmal so viel wie der Bundesetat für Bildung und Forschung. Würden wir ein Jahr lang komplett auf neue Kleidung verzichten, wir könnten Mehrheitseigner bei Google werden oder Griechenland ein paar weitere Monate am Leben halten. Warum also jeden zweiten Samstag rein in den Wahnsinn, wenn der Schrank zu Hause sowieso voll ist? Schauen wir uns diese 70 Milliarden doch mal genauer an und zerlegen sie in ihre Einzelteile. Fünf Mutmaßungen:
In einem durchschnittlichen Haushalt werden im Jahr 468 Euro für Damen- und 252 Euro für Herrenmode ausgegeben.
Viel, wenig, teuer, billig – ist natürlich alles relativ: Man könnte zum Beispiel zu H&M gehen, 252 Euro auf die Theke legen und mit 48 T-Shirts nach Hause gehen. Oder aber man läuft bei Hermès ein und kauft sich für 468 Euro – nein, keine Handtasche, sondern ein Tuch, das man sich dann umbinden kann, was hübsch aussieht und den empfindlichen Hals vor böigen Winden schützt. Im Grunde sind Blusen und Hosen auch nur eine weitere Form von Besitz, und so gilt auch hier: Nichts haben ist zu wenig, zu viel haben meist auch nicht einfach. Manchmal nämlich stellt sich ein komplexes Paradox ein: Menschen haben so viel Kleidung, dass sie sich nicht entscheiden können, welche sie anziehen sollen, und dann glauben sie, dieses Problem nur auf eine Weise beseitigen zu können – indem sie noch mehr Kleidung kaufen, einen zweiten Schrank brauchen, der aber nicht in die Wohnung passt, eine größere Wohnung aber wäre zu teuer und so weiter. Dann lieber ein Hermès-Tuch, das steigt vielleicht sogar im Wert, Sie wissen schon, die Inflation.
Single-Männer kaufen pro Jahr Kleidung im Wert von 516 Euro, darunter Damenkleidung im Wert von 24 Euro. Single-Frauen geben 816 Euro aus, davon 36 Euro für Herrenkleidung.
Dass allein lebende Menschen mehr Geld für Kleidung ausgeben als solche in Partnerschaften, muss damit zu tun haben, dass sie keine allein lebenden Menschen bleiben möchten. Sie geben Geld aus, um endlich wieder in einer Partnerschaft zu leben – vielleicht, weil sie sich nach Liebe sehnen oder aber weil sie endlich weniger Geld für Kleidung ausgeben wollen. Verstörend ist die Information, dass alleinstehende Männer im Jahr 24 Euro für Damenkleidung ausgeben, wirft sie doch die Frage auf: Worum handelt es sich? Strumpfhosen für Bankräuber? Ein Tutu fürs Männerballett? Oder doch nur ein lieb gemeintes Geschenk für die beste Freundin. Und umgekehrt – die 36 Euro weiblicher Singles für Männerkleidung? Müssen die Hemden und Boxershorts sein, die Frauen immer morgens im Bett anhaben, wenn sie sich ein Marmeladenbrot streichen. Oder tun sie das nur in der Marmeladen-Werbung?
Im Juli lag der Umsatz von Röcken 15, der von Kleidern 21 Prozent unter dem Wert des Vorjahres. Strickwaren hingegen legten um 26 Prozent zu, Mäntel um 18 Prozent.
In der Fachzeitschrift Textilwirtschaft war zu lesen, dass in diesem Jahr "das Sales-Geschäft trotz hoher Nachlässe Ende Juli stark eingebrochen" sei, besonders bei den kurzen Hosen. Früher nannte man das Sales-Geschäft mal Sommerschlussverkauf, aber seit ein paar Jahren darf jeder Saisonschlussverkauf machen, wann und wie viel er möchte – das nennt man dann Wettbewerb. Logisch ist das schon irgendwie, die Jahreszeiten halten sich auch nicht mehr an den Kalender. Und wenn man die Einkäufe der Deutschen mal als Formulierung einer Erwartung an die Zukunft nimmt, dann stehen uns eher triste Zeiten bevor: Mäntel und Strick gehen zurzeit besonders gut, vor allem Oversize-Pullis. Bei den Farben stehen die Zeichen auf Rot, Marine und Senf. Ja, Senf.
Laut einer Umfrage haben Frauen zwölf Kleidungsstücke im Schrank, die ihnen nicht passen.
Was heißt eigentlich "passen"? Es soll Frauen geben, die ihre Jeans im Liegen anziehen müssen. Das sieht sicher lustig aus, ob die Jeans aber noch passen oder nicht, da gehen die Meinungen auseinander, vor allem wenn Victoria Beckham und Volker Kauder darüber diskutieren würden, was sie natürlich nie im Leben tun werden. Klar ist die Sache, wenn eine Hose überhaupt nicht mehr an und über den Körper zu zerren ist. Die Bluse in der falschen Größe kann ein billiger Flirtversuch, ein guter Vorsatz oder eine Absicherung für schwerere Zeiten sein – es gibt ja verlässlichere Konstanten im Leben als die eigene Kleidergröße. Bei manchen Sachen erwartet man auch gar nicht, dass sie einem je wieder passen werden. Da geht es um Erinnerungen, und die kennen keine Bundweite.
Auf der Liste der größten Textileinzelhändler steht Aldi auf Platz acht, gleich dahinter folgt Lidl.
Diese Statistik (Stand: 2009) erzählt mehr über die Marktmacht von Aldi und Lidl als über ihr Gespür für Mode. Was sich auf Wühltischen zu Angeboten der Woche verknäult, ist nichts anderes als die Übertragung des Schweinebauch-Prinzips auf ein Zusatzgeschäft: Die T-Shirts könnten zum Kilopreis verkauft werden oder als Happy-Deal-Dreingabe zur Gartenschere, niemand würde sich wundern. Hier geht es nicht um den Schnitt eines T-Shirts, auch nicht um Mode als die Lust am Besonderen, sondern um die schmucklose Befriedigung eines Grundbedürfnisses: Zumindest die meisten laufen eben nicht mehr nackt durch die Gegend. Man könnte die Tatsache, dass sich Millionen von Menschen bei Aldi und Lidl einkleiden, natürlich auch politisch deuten – aber das ist ein anderes, viel größeres Thema.
Mitarbeit: Carolin Rossmann
Foto: Karsten Thielker