SZ-Magazin: Wenn mir diesen Winter wieder ein günstiger Kaschmirschal für 30 Euro begegnet: Schnell zugreifen?
Kim-Hô Phan: Ich habe in Läden in Paris, Amsterdam und Rom sogar »100 Prozent Kaschmir«-Schals für zehn Euro gesehen. Echtes, reines Kaschmir ist das mit Sicherheit nicht. Allein das Rohmaterial kostet schon mehr.
Was wäre ein normaler Preis?
Für einen hochwertigen Schal eher um die 100 Euro, von einer bekannten Marke wird es noch teurer. Ein Kilo Kaschmir kostet je nach Qualität auf dem Weltmarkt zwischen 50 und 130 Euro. Je feiner, länger und heller die Faser, desto teurer. Für einen Schal brauchen Sie etwa 120 bis 150 Gramm.
Was steckt dann im günstigen Kaschmir-Schal?
In den ganz billigen Fälschungen hauptsächlich Viskose. In den besseren wird feine Wolle beigemischt, etwa vom Schaf, oder auch Seide – das müsste dann aber auch so deklariert werden.
Warum ist Kaschmir so viel teurer?
Pro Jahr werden weltweit lediglich etwa 8000 Tonnen produziert. Diese Edelhaare stammen von den Kaschmirziegen, die hauptsächlich in Hochlandgebirgen in China oder der Inneren Mongolei leben. Im Frühjahr werden sie nicht geschoren, sondern es werden nur die feinen Unterhaare ausgekämmt. Der noch mit den groben Deckhaaren vermischte Flaum muss anschließend mit viel Aufwand maschinell getrennt werden. Für einen Pullover brauchen Sie den Flaum von drei bis fünf Ziegen.
Woran merke ich beim Kauf den Unterschied zwischen reinem Kaschmir und Mischungen?
Meistens gar nicht. Selbst harte Wollfasern werden mit Weichmachern wie Silikon so behandelt, dass sie sich fast wie Kaschmir anfühlen.
Und beim Tragen oder nach dem Waschen?
Wenn der Anteil von anderer Wolle unter 15 Prozent liegt, werden Sie es wahrscheinlich auch dann nie merken. Aber wenn viele Fremdfasern beigemischt wurden, spült sich der Weichmacher nach mehrmaligem Waschen aus, und der harte Griff kommt zurück.
Ist das Pilling, die Knötchenbildung beim Tragen, kein Zeichen von minderwertigem Material?
Pilling ist generell ein Zeichen für sehr kurze, minderwertige Kaschmirfasern. Je länger die Fasern, desto besser können sie im Garn festgehalten werden. Nur die Künstler unter den Verarbeitern, die Italiener und Japaner, können auch mit sehr kurzen Kaschmirfasern perfekt arbeiten.
Sie haben 30 Jahre lang als Faseranalytiker beim privaten Deutschen Wollforschungsinstitut in Aachen gearbeitet, dem DWI, heute das Leibniz-Institut für interaktive Materialien. Seit 2013 führen Sie Ihr eigenes Büro für Kaschmir- und Edelhaar-Analyse. Wer kommt zu Ihnen?
Hersteller und Käufer aus Europa, USA und Asien, die Rohmaterial oder produzierte Ware kaufen wollen und sichergehen möchten, dass die Kennzeichnung stimmt: Reines Kaschmir oder doch nur 80 Prozent plus andere Tierhaare? Einige deutsche Textilhändler haben uns auch die Produkte ihrer Konkurrenten prüfen lassen.
Wie häufig stellen Sie Fälschungen fest?
Während meiner Zeit beim DWI waren im Schnitt 50 bis 60 Prozent der untersuchten Proben falsch deklariert. Statt der angegebenen 100 Prozent Kaschmir habe ich manchmal keine einzige Kaschmirfaser gefunden. Im Durchschnitt waren zehn bis 15 Prozent beigemischt. Je höher der Kaschmirpreis, desto mehr Fälschungen kursieren auf dem Markt.
Die Hohenstein Institute, die ebenfalls Textilien untersuchen, haben sich von der Kaschmiranalyse verabschiedet, weil man die Faser ihrer Meinung nach gar nicht eindeutig prüfen kann.
Mit einem guten Lichtmikroskop können Sie beispielsweise schon viele Proben bestimmen – wenn Sie einen guten Mikroskopisten haben. Meistens scheitert die Analyse von Tierhaaren in Textilien eher an mangelnder Erfahrung. Dunkle Fasern, ob gefärbt oder pigmentiert, und besonders chemisch modifizierte Fasern sind unter dem Lichtmikroskop sehr schwer zu erkennen. Es stimmt, dass etwa die DNS-Analyse bei Endprodukten kaum weiterhilft, weil nach den Verarbeitungsprozessen, dem Waschen, dem Färben quasi keine DNS mehr in den Fasern übrig ist. Aber wir haben am DWI in all den Jahren viel geforscht. Am Ende hat sich die Arbeit mit dem Raster-Elektronenmikroskop als die beste Methode durchgesetzt. Aber auch hier zählt jahrelange Erfahrung.
In einem Interview sagten Sie, es gebe weltweit 20 Experten, die Kaschmir bestimmen könnten. Einer davon seien Sie, die anderen 19 hätten Sie ausgebildet.
Nein, da bin ich völlig falsch zitiert worden. Es kamen tatsächlich immer wieder Experten verschiedener Prüflabors aus China, Korea, der Schweiz, Großbritannien oder Italien zu uns, um mir über die Schulter zu schauen. Oder ich wurde eingeladen, um sie in die Kaschmiranalyse einzuweisen. Es gibt wirklich nicht viele Experten auf diesem Gebiet. Oder sagen wir: Es gibt eine Reihe Experten, die allerdings Jahr für Jahr unglaublich falsche Expertisen aufgestellt haben.
Wie sind Sie zu Ihrem Fachwissen gekommen?
Ich habe Textilchemie und -veredelung studiert, danach Molekularchemie. Als ich beim DWI anfing, haben wir vor allem Mohairwolle untersucht. Anfangs war die Tierhaaranalytik eigentlich ein Nebenprodukt unserer Forschungsarbeiten. Dann kam Mohair aus der Mode, und es tauchten mehr und mehr Probleme mit Kaschmir auf. Wir hatten plötzlich so viele Anfragen, dass ich mich darauf spezialisiert habe.
Wie funktioniert die Analyse per Raster-Elektronenmikroskop?
Jede Faser hat einen topografischen Fingerabdruck, mit dem man die einzelnen Faserarten gut unterscheiden kann. Jede Oberflächenstruktur ist anders, die Schuppen der Kaschmirfaser unterscheiden sich von denen der Wolle und anderer Edelhaare. Neben der Schuppenform ist die mittlere Faserfeinheit ein wichtiges Kriterium. Eine Probe mit einem durchschnittlichen Durchmesser von über 20 Mikrometern kann niemals als Kaschmir eingestuft werden, da dessen Obergrenze bei 19 Mikrometern liegt.
Stimmt es, dass Fasern mittlerweile häufig manipuliert werden, damit sie sich nicht nur wie Kaschmir anfühlen, sondern auch unter dem Mikroskop wie Kaschmir aussehen?
Allerdings. Die Schuppen der Kaschmirfaser sind meistens bambusförmig und mit 0,4 Mikrometern um die Hälfte dünner als etwa die von Schafwolle. Die gängigste Methode ist deshalb, die Schuppen der Wollfasern chemisch anzuätzen und sie kaschmirähnlich zu modifizieren. Das geht innerhalb von Sekunden, beschädigt aber auch die Struktur. Wir haben gestaunt, wie gut die Fälscher mittlerweile im Strecken mit Fremd- fasern sind.
Wer schummelt am meisten?
Es gibt ja nur noch ein paar Länder, die Kaschmir produzieren, fast alles stammt aus China und der Inneren Mongolei. Die chinesischen Produzenten können seit den Achtzigerjahren direkt vor Ort weiterverarbeiten, was die Wertschöpfung natürlich steigert. In Italien, England oder Deutschland wird nur noch ganz wenig gemacht. Geschummelt wird überall, beim Kauf und Verkauf von Rohmaterial, beim Verspinnen der Garne – sogar beanstandete Waren werden erst aussortiert und dann vor der Verschiffung wieder korrekt deklarierten Exportgütern beigemischt.
In Italien wurden zuletzt neben Acryl und Viskose sogar Rattenhaare in angeblichen Kaschmirprodukten gefunden.
Eigentlich unlogisch. Die Haare sind viel zu grob, um sie mit Kaschmir zu verspinnen. Was wir häufig in Mischungen gefunden haben, sind feine Unterhaare von Yak, auch Yakfaser genannt. Yak ist eine Rinderart, die in China, der Mongolei und in Zentralasien als Trägertier verbreitet ist. Die Faser ist Kaschmir ähnlich, aber billiger, und der Griff ist härter. Ich habe sie in Proben von 1986 entdeckt, die als 100 Prozent Kaschmir verkauft worden sind. Das war weltweit das erste Mal. Aber es hat mir niemand geglaubt.
Warum nicht?
Der Anbieter hat mehrere Gegengutachten von namhaften Prüflabors auf der Welt präsentiert, die steif und fest behaupteten, das wäre Kaschmir. Yak kannte schlicht niemand, da diese Faserart offiziell nicht auf dem Markt existierte. Davor hatte ich aber vom Aachener und Münchner Zoo Fellproben von Yak sowie authentische Proben aus China besorgt und mich dann lange damit beschäftigt. Mir wurde schon mit finan-ziellen und gerichtlichen Konsequenzen gedroht. Erst 20 Jahre später, 2006, wurde mir Recht gegeben. Yak ist schlecht vermarktet, eigentlich ist es ein Edelhaar mit sehr gutem Wärmerückhaltevermögen. Nur der Griff ist nicht so gut wie der von Kaschmir.
Nach dem deutschen Textilkennzeichnungsgesetz ist der Verkäufer für die korrekte Auszeichnung von Stoffen und Bekleidung zuständig. Aber es gibt keine offiziellen Kontrollen und kein einheitliches Gütesiegel für Kaschmir, so wie es etwa für Schurwolle existiert. Warum nicht?
Bei Wolle gibt es diese Mischungsprobleme einfach nicht. Wenn die Kaschmirproduzenten wollten, könnten sie natürlich ein Siegel wie »Woolmark« ins Leben rufen, aber bisher gibt es von Anbietern und Produzenten kein Interesse.
Wenn Sie eine Fälschung feststellen: Was passiert dann?
Bei wichtigen Kunden muss der Anbieter sich schnell eine neue Lieferung Kaschmir beschaffen. Wenn ich im Auftrag eines Anbieters Proben der Konkurrenz untersucht habe, besonders bei Internet-Anbietern, dann bekommen die zunächst eine Abmahnung.
Aber auch Sie können nur Stichproben machen.
Richtig. Manchmal haben wir auch Vorprodukte untersucht, die alle in Ordnung waren – und bei den fertigen Produkten, die in Deutschland vom Lieferanten eintrafen, waren dann wieder Wolle, besonders modifizierte Wolle, Lammwolle und andere, billigere Tierhaare beigemischt. Die Kontrollen müssten systematisch durchgeführt werden, und Lieferant, Abnehmer und Prüfer müssten besser zusammenarbeiten.
Firmen wie die Schweizer Fair Trade Cashmere sind deshalb dazu übergegangen, eigene Ziegenherden in China zu unterhalten, um die komplette Versorgungskette zu kontrollieren. Wenn der Bedarf an Kaschmir stetig steigt: Warum werden in der Mongolei oder in China nicht mehr Ziegen gezüchtet?
Die Zahl der Kaschmirziegen hat in den Achtzigerjahren in China und in der Mongolei stark zugenommen. Im Gegensatz zu Schafen ziehen die Ziegen aber das Gras mitsamt der Wurzel aus der Erde – da wächst kaum mehr etwas nach. Bodenerosion ist in den betreffenden Gebieten bereits ein riesiges Problem. China hat mit Sandstürmen zu kämpfen und musste meines Wissens eine ganze Menge Tiere töten.
Und woanders züchten?
Genetisch ginge das, aber die klimatischen Bedingungen sind anderswo nicht hart genug. Dann wächst der Flaum am Unterfell weniger, und die feinen Fasern werden gröber. In Südamerika hat man versucht, die Vikunja einzuzäunen, eine kleine Kamelart, die ebenfalls sehr edle Wolle liefert. Aber sobald die Tiere mehr zu fressen bekommen, verändert sich das Fell.
Kaschmir wird in naher Zukunft also eher knapper werden?
Das ist angesichts der andauernden Versteppungsprobleme in Nordchina und in der Mongolei gut möglich.
Sie untersuchen auch Echthaar für Hair-Extensions mit dem Raster-Elektronenmikroskop. Wird auch da viel gefälscht?
Die Nachfrage für Haarverlängerungen ist in Europa und Amerika in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Das meiste Haar stammt aber von Frauen aus Indien, China, Vietnam oder Kambodscha, und deren Haare sind oft dicker als die europäischen. Also werden die Haare chemisch dünner gemacht. Häufig wird jedoch durch die chemische Behandlung die Oberflächenstruktur der Haare stark erodiert.
Und dann?
Dann darf es beim Verkauf nicht mehr als »Remi-Haar« bezeichnet werden, also als unbehandeltes Haar oder Naturhaar. Wenn die Oberfläche nicht mehr intakt ist, wird die Festigkeit und somit die Qualität des Haares stark beeinträchtigt.
Meinen Pullover, der hoffentlich aus echtem Kaschmir ist: Wie wasche ich den am besten?
Im Wollprogramm der Waschmaschine. Handwäsche geht natürlich auch – aber nicht auswringen! Und beim Trocknen glatt hinlegen. Dann bleibt die Form gut erhalten.
Haben Sie einen Tipp gegen Motten?
Leider nicht. Die wissen sofort, wenn sie es mit Kaschmir zu tun haben, und lassen den Wollpullover daneben links liegen.
Illustration: Eugenia Loli, Foto: Ivo Mayr