SZ-Magazin: Herr Nagano, wie kommt ein Dirigent zum Surfen?
Kent Nagano: Ich bin in Morro Bay aufgewachsen, einem kleinen Ort zwischen Los Angeles und San Francisco. Da gab es nicht viel Unterhaltung für ein Kind, weder Shoppingmalls noch Kinos. Also habe ich mir das Surfboard von einem Freund geliehen, aber weder mein Bruder noch ich waren so klug, einen Neoprenanzug anzuziehen. Der Pazifik vor San Francisco ist eiskalt, die Meeresströmung kommt aus Alaska – und wir trugen nur Badehosen.
Klingt nicht nach dem Beach-Boys-Surferklischee: Sommer, Sonne, Strandparty …
Ich mochte schon damals lieber Bach und Mozart. Die Beach Boys waren der Soundtrack Südkaliforniens, die Musik der Surfer aus Los Angeles, vom Malibu Beach oder von Santa Monica: Strände mit weißem Sand, Palmen und Postkarten-Sonnenaufgängen. Ich dagegen komme aus einem Ort zirka 150 Kilometer weiter nördlich, dort ist es viel ungemütlicher, wilder und kälter. Wir schmierten uns Vaseline gegen die Kälte ins Gesicht. Es gibt dort nur Felsküsten und jede Menge Weiße Haie – da summt keiner mehr Beach-Boys-Lieder im Wasser.
Hat Sie je ein Hai angegriffen?
Sie kommen still und leise, plötzlich sieht man eine Rückenflosse und paddelt so schnell wie möglich in die andere Richtung. Ich bin mir nicht sicher, ob es jedes Mal ein großer Weißer war – aber ich wollte das nicht ausdiskutieren. Eigentlich mögen die Haie kein Menschenfleisch und keine Gummianzüge. Trotzdem werden hier jedes Jahr Surfer getötet. Nordkalifornien ist die Heimat dieser Tiere – wir sind die Touristen, die sie stören. Die Haie werden nördlich von San Francisco in der Tomales Bay geboren. Bevor ich das wusste, bin ich dort gern schwimmen gegangen. Wir sagen im Englischen: »What you don’t know cannot hurt you.«
Am Dirigentenpult sind Sie bekannt für Ihre Höflichkeit. Sind Sie auf dem Surfbrett ein Draufgänger?
Mein Bruder war der raffiniertere Surfer, aber ich hatte tatsächlich nie Angst. Immer wenn das Meer richtig wild wurde, wollte ich die perfekte Welle reiten. Das war mir jedes Risiko wert. Vor einigen Jahren habe ich am Ocean Beach in San Francisco die schönsten und größten Wellen des Winters gesehen. Einige Surfer sind an den Strand zurück, weil sie Angst hatten. Ich bin also allein raus aufs Meer. Ein großer Fehler: Die Wellen waren ungefähr vier Meter hoch, und die Brandung war so gewaltig, dass mein Board in zwei Teile zerbrach. Ich wollte zurück zum Strand schwimmen, aber ich wurde von der Strömung aufs Meer hinausgezogen, die Küste wurde immer kleiner. Viele Touristen kommen so ums Leben, weil sie in der Strömung in Panik geraten.
Wie haben Sie sich gerettet?
Ich wusste, ich darf nicht gegen die Strömung ankämpfen, also bin ich seitlich ausgewichen, Richtung Golden Gate Bridge. Erst nach einer Stunde habe ich das Ufer erreicht, ich war so erschöpft, dass ich auf allen vieren an den Strand krabbelte und laut nach Luft schnappte. Ein Urlauberpärchen kam vorbei, und der Mann sagte zu seiner Frau: »Siehst du, San Francisco ist voll von Drogenabhängigen!«
Was fasziniert Sie so am Surfen?
Eine Welle ist wie ein Lebewesen. Es gibt einen Moment der Geburt, das Heranwachsen über Tausende Kilometer, die Entladung der Energie in der Brandung und ein langsames Ersterben. Auf der Welle löst sich das Gefühl der Schwerkraft auf. Und manche Wellen tragen Sie bis zu drei Minuten lang, diese Einheit mit der Natur ist unvergleichlich.
Fällt es Ihnen schwer, in einer Stadt wie München zu leben, Hunderte Kilometer entfernt vom nächsten Strand?
Ich habe mich gefragt, ob ich es aushalten würde, auf dem Land eingesperrt zu sein. Aber ich war sofort überwältigt von den Alpen. Es machte keinen Unterschied mehr: das Meer oder die Berge. Ich sagte zu mir: Das ist für mich wild genug. Außerdem haben meine Frau und ich unser Haus in San Francisco behalten, ich fahre regelmäßig heim zum Surfen.
Das müssten Sie eigentlich nicht – München ist berühmt für seine Flusssurfer.
Auf dem Weg zur Oper habe ich die Eisbach-Surfer oft beobachten können, ein faszinierendes Schauspiel. Die Persönlichkeit der Welle ist total anders als im Meer. Man sollte die Gewässer kennen, in die man sich mit seinem Brett wirft. Aber versprochen: Bevor ich München verlasse, werde ich das nachholen.
Sie haben in San Francisco studiert, in Los Angeles und München dirigiert. Drei Großstädte, in denen Surfer zum Straßenbild gehören. Prägt das Lebensgefühl des Surfens die Städte?
Surfen ist heute vor allem Kommerz. Es geht darum, einen Modetrend zu produzieren und mit dem positiven Image des Surfens Geld zu verdienen. Die Surfergemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle, ist eine Sub- oder Gegenkultur. Das hat nichts damit zu tun, welches Auto du kaufst oder welche Surfboardmarke. Als Teenager bin ich mit den älteren Surfern aufs Meer hinausgepaddelt. Nur die Wellen, die sie nicht genommen hatten, durfte ich nehmen. Das war eine Art Stammeshierarchie. Ich bin immer noch verrückt genug, in Kalifornien um vier Uhr morgens aufs Brett zu steigen, wenn die Gezeiten die schönsten Brecher formen. Wenn ich im Winter die Surfer am Eisbach sehe, die trotz Schnee surfen, denke ich: Wow, die gleiche Leidenschaft und Hingabe.
Sportarten haben ihren eigenen Soundtrack: Basketballer hören etwa meist Hip-Hop. Passt Klassik zum Wellenreiten?
Die größte Welle meines Lebens war fünf Meter hoch, sie ging weit über meine technischen Fähigkeiten hinaus, aber es geschah ein Wunder, und ich konnte sie surfen. In diesem Moment kam es mir vor, als würde ich eine Melodie hören.
Welche Musik?
Ich habe mit anderen Surfern darüber gesprochen, sie hatten das genauso erlebt. Es ist ein Phänomen in der Zone zwischen Leben und Tod, das dich Dinge hören lässt, die du sonst nicht wahrnimmst. Wie in den Liedern der alten Seefahrer und Fischer, die in Extremsituationen himmlische Klänge oder Gesänge der Meerjungfrauen gehört haben. Diese Musik ist nicht Hip-Hop, nicht Rock ’n’ Roll, selbst ein Orchester ist dafür zu begrenzt. Es ist eine strahlendere, prächtigere, poetischere Musik als alles mir Bekannte. Sie erinnert an Die Harmonie der Welt, die Sinfonie von Paul Hindemith. Ich würde gern begreifen, was genau das ist.
Der Sänger Jack Johnson sagt, beim Surfen fallen ihm seine besten Melodien und Texte ein.
Als ich in Los Angeles mit Plácido Domingo an der Oper arbeitete, gab es eine kleine Gruppe von Orchestermusikern, mit denen ich vor oder nach den Proben surfen ging. Wir saßen auf unseren Boards, warteten auf die Welle und hatten plötzlich sehr leidenschaftliche Diskussionen zwischen Dirigent und Orchester. Einmal, als gerade eine neue Interpretation der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach herausgekommen war, fingen wir mitten im Meer an, über die Interpretation einer umstrittenen Stelle zu fachsimpeln. Alle diskutierten wild durcheinander, wie Bach es gemeint haben könnte. Es war surreal.
Sind Ihre langen Haare eine Hommage an die Surferkultur?
Ach, das hat praktische Gründe: Ich muss nicht mehr so oft zum Friseur. Mit dem kalifornischen Lebensgefühl hat es wenig zu tun, weil lange Haare aus der Mode sind. In meiner Heimat tragen Surfer jetzt kurz.
Kent Nagano zählt zu den ganz großen Dirigenten: Er ist Amerikaner japanischer Herkunft, wird in diesem Jahr 60 und dirigierte bereits mit acht Jahren den Kirchenchor in seiner kalifornischen Heimatstadt. Er studierte Soziologie und Musik in Santa Cruz und San Francisco. Seit 1984 leitete er als musikalischer Direktor verschiedene Opernhäuser und Orchester, darunter Boston, Montreal, Berlin. Seit 2006 ist er Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Nagano ist mit der japanischen Pianistin Mari Kodama verheiratet, das Paar hat eine Tochter.