Endlich geimpft

Seit der Präsidentschaftswahl schreibt der Schriftsteller T.C. Boyle für uns darüber, wie es in den USA nun weitergeht. Folge 6: Sein Sohn, der Arzt ist, hat die Corona-Impfung erhalten. Und doch bleibt ein ungutes Gefühl beim ersten Familientreffen.

Foto: Peter-Andreas Hassieben, Hanser-Verlag

Ein neues Jahr beginnt, und alle Nachrichten drehen sich um die Verwirrung und Inkompetenz, mit der die Trump-Regierung versucht, den COVID-19-Impfstoff unter die Leute zu bringen. Wir sind weit hinter den zwanzig Millionen zurück, die die Regierung bis zum Jahresende impfen wollte, was zu immer noch mehr Todesfällen führt. Die USA haben vier Prozent der Weltbevölkerung, aber zwanzig Prozent der COVID-Todesfälle weltweit zu verzeichnen. Ja, Führung ist wichtig, und in den letzten Monaten, als wir sie am meisten gebraucht hätten, haben wir so gut wie nichts davon gesehen.

Im letzten Brief hatte ich erwähnt, dass mein Sohn noch nicht geimpft wurde, obwohl er in einem der großen Krankenhäuser in Los Angeles arbeitet, wo das Virus wirklich wütet. Das ist zum Glück nicht mehr der Fall: Inzwischen wurde er geimpft. Und noch eine gute Nachricht: Meine Schwägerin und ihre beiden Kinder wurden negativ getestet, nachdem auch sie dem Virus ausgesetzt waren.

Trotzdem war unsere Weihnachtsfeier erzwungenermaßen gedämpft. Nach einigem Hin und Her von meiner Frau, die Emotionen oft über Machbarkeit stellt, hatten wir uns entschlossen, ohne unseren Sohn zu feiern, obwohl er Heiligabend frei bekommen hatte. Für das Santa Barbara County gilt immer noch eine Stay-at-home-Order, gerade noch mal auf unbestimmte Zeit verlängert. Dabei bräuchte unser Sohn dringend eine Pause. Das Krankenhaus ist zu einer Todesfabrik geworden. Er arbeitet dreizehn Stunden am Tag und hat seit November nur drei oder vier Tage frei gehabt. Natürlich wollte er kommen und bei seiner Familie sein, aber wir mussten die schwere Entscheidung treffen, nein zu sagen, aus Angst vor Ansteckung. Als Kompromiss haben wir ihm ein Weihnachtsessen zubereitet, und mein Schwiegersohn hat heldenhaft die vierstündige Hin- und Rückfahrt auf sich genommen, um es ihm wenigstens vor die Wohnungstür zu stellen. Frohe Weihnachten, oder?

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Das Virus hat uns gelehrt, dass wir nicht, wie wir törichterweise dachten, an der Spitze der Nahrungskette stehen

Im Grunde leben wir nur von der Hoffnung, dass der ganze Alptraum bald vorbei ist. Immerhin, der Wetterwechsel war ein Segen – wir hatten den ersten Regen seit fast acht Monaten, das verringert die Brandgefahr, nachdem wir gerade die katastrophalste Feuersaison in der Geschichte Kaliforniens hinter uns haben. Die Eulen sind zurück in den Wäldern, bereit für ihre jährlichen Paarungstreffen, die Frösche im Teich werden ein bisschen lebendiger und bereiten sich auf heißen Amphibien-Sex vor. Und vor ein paar Tagen haben wir einen Monarchfalter dabei beobachtet, wie er schlüpfte und sich in die Luft erhob. Die Natur schafft immer wieder neues Leben in einer Endlosschleife. Und das Virus hat uns gelehrt, dass wir nicht, wie wir törichterweise dachten, an der Spitze der Nahrungskette stehen.

Aber wir sehen zumindest Licht am Horizont. Die Zeit der Unterdrückung durch Trump, der all unsere Probleme katastrophal verschlimmert hat, geht ihrem Ende entgegen. Auf meinem Twitter-Feed läuft seit einiger Zeit täglich eine Sanduhr, die die Tage bis zum 20. Januar runterzählt. Trumps Schergen versuchen zwar immer noch, Bidens Sieg zu leugnen, aber ihre Stimmen werden allmählich quengelig und dünn, sie verebben zu einem Flüstern.

An Silvester hatten wir übrigens dann eine fast normale Feier – wir konnten doch noch Dr. Boyle, den Jüngeren, sehen. Er ist dank der Impfung jetzt weitgehend vor dem Virus geschützt und wird ihn wahrscheinlich nicht mehr übertragen, was die Sache etwas leichter machte. Ich habe ein Feuer angezündet. Wir haben Musik aufgelegt und Sekt getrunken. Aber ganz haben wir uns trotzdem nicht an ihn herangetraut – er blieb draußen, auf der Veranda, und schaute durch das Fenster herein.