Schreie der leidenden Nation

Seit der Präsidentschaftswahl schreibt der Schriftsteller T.C. Boyle für uns in Briefen darüber, wie es in den USA nun weitergeht. Folge 5: Während sein Sohn als Notarzt vergessen wurde, versuchen die Reichen und Mächtigen schneller an ihre Impfdosen zu kommen.

Foto: Peter-Andreas Hassieben, Hanser-Verlag

Ich war wohl im letzten Brief etwas voreilig, als ich behauptet habe, mein Sohn würde diese Woche seine Impfung gegen COVID-19 kriegen. Er sollte zwar jetzt geimpft werden, aber während fast alle seine Kollegen, also die Ärzte und das Pflegepersonal, ihre Impfung tatsächlich erhalten haben, wurde er irgendwie übersehen. Zurzeit arbeitet er auf der Intensivstation, bald wird er wieder in die Notaufnahme versetzt, das bedeutet, seine gefährliche Position wird noch gefährlicher. Er hofft, dass er seine Spritze nächste Woche bekommt.

Inzwischen rangelt der Rest der Gesellschaft schon um die besten Plätze, die Menschen tricksen rum, um in der Schlange ganz nach vorn zu kommen. Und sie tricksen nicht nur, sie bieten Bestechungsgelder an und betonen ihre Stellung als gesellschaftliche Schwergewichte. (Ich würde mich auch gern als Schwergewicht geben, aber, tja, ich bin schon mein ganzes Leben lang dürr.) Die L.A. Times berichtet, die Prominenten, die Vernetzten und die absurd Reichen stürmen jetzt die öffentlichen Einrichtungen. Wer großzügig an Krankenhäuser gespendet hat, fordert plötzlich Gegenleistungen. Andere verlassen sich schon immer auf eine Art »Concierge-Ärzte«, denen sie einen festen Betrag pro Monat zahlen, und jetzt drängen sie darauf, dass diese halb angestellten Ärzte ihnen Vorteile verschaffen, egal was es kostet. Ist das sozialverträglich? Hat Geld immer recht? Ich frage mich, ob Ivanka wohl ihre Impfung schon bekommen hat.

Trump schweigt zu alldem. Wir stehen mitten in einer der größten Krisen in der Geschichte dieses Landes – der Welt –, und unser Präsident tut … absolut … nichts (außer die Wahlergebnisse anzufechten und per Twitter Galle zu spucken). Bill Barr, der fadenscheinige Justizminister, tritt jetzt zurück, da kann man nur sagen, »Auf Nimmerwiedersehen«. Möge er in die Geschichte eingehen mit all den anderen Wendehälsen, die ihr Land verraten haben. Aber welche Genugtuung verschafft einem das schon in den allerschlimmsten und düstersten Tagen der Pandemie? Wir ertragen das alles jetzt seit zehn Monaten, die Zahl der Toten steigt und steigt, es ist eine Katastrophe. Ich frage mich ernsthaft: Wer hat das Sagen? Wer hat das höchste Amt angetreten, wer hat den Amtseid abgelegt, um dem Volk zu dienen und nicht seiner eigenen Gier? Die leeren Flure des Weißen Hauses und des Kongresses hallen wider von den gequälten Schreien der leidenden Nation.

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Und soll ich mal kurz etwas über die Realität da draußen erzählen? Die Schwester meiner Frau kämpft gegen eine schwere Form von Krebs, die sie kurz vor dem Ausbruch der Pandemie erwischt hat. Sie hat bis jetzt überlebt. Chemo und Bestrahlung haben die Krebszellen kleingekriegt, sie haben aber auch ihr Immunsystem schwer angegriffen. Vor drei Tagen haben wir erfahren, dass der Vater des Verlobten ihrer Tochter positiv auf COVID-19 getestet wurde. Und wegen der ewigen Lügen und der Gleichgültigkeit der Trump-Regierung hat dieses Land nach wie vor nicht einmal genügend Tests, geschweige denn eine Kontaktverfolgung. Obwohl der ganze Horror schon seit zehn Monaten läuft. Was können wir tun? Tja, wir warten auf Joe Biden. Und hoffen, dass Dr. Boyle der Jüngere und seine Tante überleben, bis endlich Hilfe kommt.

Ich lasse Ihnen diese Woche ein Zitat da, es stammt aus einem Blues von Reverend Gary Davis, »Death Don't Have No Mercy«:

»Der Tod kennt keine Gnade in diesem Land,
Er kommt in dein Haus und bleibt nicht lang,
Du schaust ins Bett und siehst, schon wieder einer tot«