Freude, Erleichterung, Überschwang

Zum letzten Mal schreibt uns der Schriftsteller T.C. Boyle aus den USA. Er blickt zurück auf die finsteren Wochen nach der Wahl, seine anfängliche naive Hoffnung und Trumps düstere Absichten für eine zweite Amtszeit. 

Foto: Peter-Andreas Hassieben, Hanser-Verlag

Als die Redaktion des SZ-Magazins mich vor ein paar Wochen gebeten hat, Briefe an die Leser zu schreiben, die sich mit der Situation hier in den USA rund um die Wahl befassen, habe ich sofort zugesagt. Denn nur durch das Schreiben kann ich meine Gedanken ordnen und meine Gefühle verorten. In einer sehr finsteren Zeit haben diese Briefe, die ich ja eigentlich an Sie geschrieben habe, mir Trost gespendet und mir geholfen, mit der erdrückenden Trostlosigkeit der beiden Übel Trump und Covid fertig zu werden (der erdrückendste Gedanke ist ja: Wenn es Covid nicht gegeben hätte, hätte Trump vielleicht die Wahl gewonnen.).

Wenn ich auf die Briefe zurückblicke, sehe ich, wie viel Angst ich Anfang November vor der katastrophalen Möglichkeit hatte, dass Trump die Wahl gewinnt. Es wäre ein Sieg gewesen, der mit Sicherheit in eine ausgewachsene Diktatur geführt hätte, ohne Bremse, ohne Pardon. Und ich sehe jetzt, wie naiv ich war: Ich dachte wirklich, das Wahlergebnis des 3. November würde dem Ganzen ein Ende machen.

Ich habe Nixon und acht Jahre Bush miterlebt. Aber der 6. Januar, der Sturm aufs Kapitol, hat mich wirklich erschüttert

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Ich wusste zwar, dass Trump im Falle einer Niederlage eine Politik der verbrannten Erde durchziehen würde, ohne Rücksicht auf irgendwas oder irgendwen außer seinem eigenen korrupten Ego. Und doch hat die Gewalt des Putschversuchs selbst mich überrascht. Ich habe Nixon und acht Jahre Bush miterlebt. Aber der 6. Januar, der Sturm aufs Kapitol, hat mich wirklich erschüttert. Die Lehre daraus? Unsere Demokratien sind zerbrechlich. Nichts kann als selbstverständlich angesehen werden.

Ich schreibe diesen letzten Brief an Sie am 20. Januar, den ich als Liberation Day bezeichne, als Tag der Befreiung. Ich hatte heute viel Arbeit, deshalb konnte ich die Amtseinführung nicht im Fernsehen verfolgen, aber ich habe die Rede von Präsident Biden mitbekommen, während mein Tee kochte und der Hund sich friedlich über sein Futter hermachte. Ich spürte eine Welle der Freude, der Erleichterung, des Überschwangs: Endlich haben wir einen echten Menschen im Weißen Haus, einen Mann, der denkt und fühlt und der seinen Amtseid mit Vertrauen und Aufrichtigkeit ablegt, anders als sein Vorgänger. Wird das Land heilen? Werde ich heilen? Wird das Virus besiegt werden und das Leben weitergehen wie bisher? Soll jetzt Information die Desinformation ersetzen? Sollen die Verräter bestraft werden? Ja, sage ich. Ja zu allem.

Später werde ich heute noch wandern gehen. Aber nicht in den Bergen, wo ich mir vor ein paar Wochen diese fiese kleine Zecke eingefangen habe (die bakterielle Entzündung ist inzwischen zum Glück ausgeheilt). Der Strand klingt für mich heute besser, der weiche Sand, der sich weit vor mir erstreckt, bis zum Wasser. Und danach werde ich nach Hause kommen und die Wiedergeburt meines Landes feiern. Ich werde mir ein Glas Wein einschenken und mich mit dem Rest des Haushalts (Frau, Tochter, Schwiegersohn, Enkel, Hund und Katze) versammeln. Ich werde mich an meine vielen Twitter-Kontakte wenden und mit der ganzen Welt feiern. Die Sonne wird scheinen. Sie scheint schon jetzt. Der Himmel ist klar.

Und das Beste von allem: Für das Wochenende ist Regen versprochen, kostbar und beständig und belebend.

Hier finden Sie alle bisherigen sieben Briefe von T.C. Boyle.