Ach, war das schön. Es war Sommer, es war heiß und die Sonne brannte auf das Asbestdach unserer Grundschule. Wir schauen raus, kein Lüftchen weht zwischen den Kiefern vor dem Pausenhof. Wir gucken auf die Lehrerin, Schweiß steht auf ihrer Stirn und unter den Achseln ihres lilafarbenen Batik-Kleids haben sich Fleckchen gebildet. Und dann – gong!: Achtung, eine Durchsage, die Temperatur ist über 27 Grad Celsius gestiegen – ab der vierten Stunde ist hitzefrei! Ich höre noch jetzt das Freudengebrüll von 400 Kindern, die aus den Hallen des Siebziger-Jahre-Baus rennen, das Schnalzen der Sandalensohlen auf Linoleum... und dann der Spritzschlauch im Garten, der das Planschbecken füllt. Kreisch! Und mein Vater lacht, dreht den Hahn zu und geht wieder in sein Arbeitszimmer. A perfect day!
Zu Beginn der Woche sagte mein Sohn, zwölf ist er und in der siebten Klasse: »Ich glaub, am Freitag gibt es hitzefrei!« Als ich dieses Wort hörte, wurde mir plötzlich klar: dass meine beiden Kinder, seit sie täglich außer Haus gehen noch keinen Tag »hitzefrei« hatten. Obwohl es ja immer wärmer wird auf der Erde.
Und weil ich mich erinnerte, an die Erwartung, die Vorfreude, die bleierne Hitze und das Schnalzen der Sohlen - sagte ich erst mal nichts. Nur: »Ja, das wär schön.« Doch mein erster Gedanke war: Oh weh, was mach ich denn da? Ich muss doch arbeiten! Natürlich sind meine Kinder mittlerweile alt genug, um sich selbst zu beschäftigen. Aber ich muss sie dann vom Computer loseisen, ich denke dann dauernd: Eigentlich sollten wir jetzt baden gehen. »Hitzefrei« würde mich stressen. Für mich gibt es kein »hitzefrei«. Ich bin selbständig und kann nicht sagen: Sorry, der Text wurde nicht fertig, mir war zu heiß. Als ich klein war und hitzefrei hatte, waren 85 Prozent der Mütter meiner Freunde Hausfrauen. Bis auf meine, dafür arbeitete mein Vater daheim. Das Schlüsselkind kam mit zu uns. Und böse Computer gab es nicht.
Hitzefrei ist nicht machbar in einer durchrationalisierten, voll berufstätigen Gesellschaft. Das war mein zweiter Gedanke, als ich zu recherchieren begonnen hatte. Ergebnis: »Hitzefrei« wurde vor ein paar Jahren abgeschafft. Ob die Schüler trotzdem nach hause gehen können, wenn es so heiß ist, dass das Hirn anfängt zu verdunsten - müssen die Schulleiter/innen entscheiden. Je nach Bundesland wird das unterschiedlich formuliert. In Berlin heißt es zuerst mal in aller preußischen Deutlichkeit: »Schule ist Pflicht.« Und dann weiter: »Und der Ausfall oder das Versäumen von Unterricht muss die Ausnahme sein. Darum gibt es kein ›Hitzefrei‹ ab einer bestimmten Temperatur mehr, sondern der Unterricht soll den Witterungsverhältnissen angepasst stattfinden.« Auf deutsch: Der Unterricht findet im Keller statt. Oder draußen, wenn doch ein Lüftchen durch die Kiefern weht.
»Bei ihrer Entscheidung hat die Schulleitung die konkrete Situation an der Schule zu berücksichtigen und eine Abwägung der Gesamtumstände vorzunehmen. Zu berücksichtigende Faktoren sind hierbei neben den raumklimatischen Verhältnissen in den Schulgebäuden insbesondere die Schülerbeförderung, die durch eine vorzeitige Unterrichtsbeendigung nicht gefährdet sein darf...«
In Bayern wird der verheißungsvolle Begriff arabesk verbeamtet durchdefiniert und ich verlinke das mal, sonst vergeht einem bei der Lektüre die Lust am Sommer. Im Prinzip läuft es aber in jedem Bundesland auf das gleich raus: Es kommt drauf an, ob der Schulleiter nett oder ein Depp ist. Wie mein Sohn sagen würde. Dem habe ich den verheißungsvollsten Teil des Paragraphen vorgelesen, der da lautet: »Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Gewährung von ›hitzefrei‹ nicht möglich ist. Vielmehr liegt die Entscheidung hierüber im alleinigen Verantwortungsbereich der Schulleitungen, denen insoweit ein Organisationsermessen zusteht. Dies ist Ausfluss der gesetzlich verankerten Stärkung der Eigenverantwortung der Schulen. Demnach trägt die Schulleitung die pädagogische, organisatorische und rechtliche Gesamtverantwortung für die Schule. Dies gibt ihr grundsätzlich die Möglichkeit, an Tagen mit besonders heißen Temperaturen den Unterricht ausnahmsweise vorzeitig zu beenden. Bei ihrer Entscheidung hat die Schulleitung die konkrete Situation an der Schule zu berücksichtigen und eine Abwägung der Gesamtumstände vorzunehmen. Zu berücksichtigende Faktoren sind hierbei neben den raumklimatischen Verhältnissen in den Schulgebäuden insbesondere die Schülerbeförderung, die durch eine vorzeitige Unterrichtsbeendigung nicht gefährdet sein darf...«
Um zu testen, ob er sich später mal zurecht finden wird, in der Formelhaftigkeit des Lebens, fragte ich mein Kind: »Und wie ist denn der Ausfluss der raumklimatischen Verhältnisse in eurer Schule? Kriegst du das hin mit der Schülerbeförderung vom Arbeitsplatz in den heimatlichen Einzugsbereich? Wie ist so dein Organisationsermessen?« Er sah mich an, wie ich damals meine schwitzende Lehrerin, und sagte: »Ganz schön heiß, was«
Und dann packte er den Hitzefrei-Bedingungs-Ausdruck in seinen Schulranzen. Wiederholte einen Satz, den ich immer mal wieder deklamiere: »Es ist wichtig, seine Rechte zu kennen.« Und jetzt sitze ich hier am Schreibtisch und warte, dass jeden Moment die Tür aufspringt. Ich hör' schon das Schnalzen der Sohlen.