In seiner vierten Nacht im Pflegeheim, Zimmer 111, erschien ihm Che Guevara im Traum und sprach: Compañero Guido, meinen Willen stählte ich mit dem Eifer eines Schmieds – tust du es auch, stirbst du noch nicht.
Seither, Mitte April 2015, liegt Guido Fernández Argote nur noch selten im Bett, am Rollator wankt er durch den Garten seiner letzten Station, schüttelt ab und zu das Bein, den Arm, geht zurück ins Haus und fährt hinauf in den ersten Stock, Zürcher Oberland, setzt sich an seinen Tisch, Pinselreiniger darauf, ein Fernglas.
Diesen Tod, im Nebenbett einen stummen Schweizer, der nur redet, wenn er schläft, hat er sich nicht gewünscht.
Tausendmal lieber, sagt Guido im einundsiebzigsten Jahr seines Lebens, tausendmal lieber als hier bequem zu sterben, hätte ich es im Kampf getan.
Jetzt drückt er den Pinsel in rotes Acryl, holt aus zu einem feinen Strich, Guido Fernández Argote, einst Mitglied des Zentralkomitees der Frente de Liberación Nacional Boliviens, Mitglied des Ejército de Liberación Nacional, schließlich Ortschef der Organización Clandestina de Lucha Antiimperialista, verantwortlich für La Paz, malt an gegen Vergessen und Tod – Schlangen, Pinguine, Fratzen, Monster.
Eigentlich, sagt er, vernehme sich die Geschichte seines Lebens, das nun bald zu Ende gehe – Hepatitis C, Lebertumor –, wie ein Scherz des Teufels.
Die Eltern, beide Lehrer, trennten sich, als Guido vier Jahre alt war, er wurde groß im Haus der Mutter, drei kleine Zimmer in La Paz, er schlief im Bett des Bruders, liebte die Gespräche mit Mama, sie sei, sagt Guido Fernández Argote in Zimmer 111, selten zur Kirche gegangen, habe sich das Gegacker der Straße verboten.
Als ich später im Gefängnis war, besuchte mich Mama jeden Tag und brachte etwas zu essen, sie sah meine Wunden und Krusten, aber sie jammerte nicht, o mein armes Söhnchen, o mein armer Guido, sie drehte sich zu den Soldaten und schrie sie an, ihr Feiglinge, die ihr nicht von einer Mutter geboren seid, meinen Sohn könnt ihr töten, aber seine Würde könnt ihr ihm nicht nehmen.
So war sie, sagt Guido. Wenn sie klagte, dann deshalb, weil das Geld nicht reichte, Brot zu kaufen für meinen Bruder und mich. Dann weinte sie, schnäuzt Guido an seinem kleinen Tisch, ein Fernglas darauf, seine jüngste Malerei, Engel und Dämonen.
Jeden Samstag legte sie Guido die Zeitung hin, El Pueblo, Das Volk, lies das und behalte, was du liest.
Guido las von Minenarbeitern, die nicht älter wurden als dreißig, von Kuba und der Revolution, Fidel Castro und Ernesto Che Guevara.
An freien Tagen, dreizehnjährig, setzte er sich ins Sekretariat der Kommunistischen Partei, half, wo er konnte, sortierte die Post.
Und keine zwanzig Jahre später, kichert Guido Fernández Argote, habe er an der Zürcher Bahnhofstrasse die Post der Schweizerischen Bankgesellschaft sortiert. Die Eselei eines Teufels, sagt er und stellt den Pinsel ins Glas.
Mit neunzehn, Student der Wirtschaft an der Universidad Mayor de San Andrés, war er längst der Revolution und ihren Zirkeln verlobt, FLN, ELN, PCB, OCLA, die Präsidenten der Republik wechselten im Halbjahrestakt, und jeder ließ auf alle schießen, die mehr Lohn verlangten oder Gerechtigkeit, Guido kaufte ein Béret, wie Che Guevara eines trug, und verließ das Haus der Mutter nicht ohne die neue Mütze. 1966 ging das Gerücht, Comandante Che, nachdem er die Revolution von Kuba in den Kongo getragen hatte, sei im Begriff, sie auch nach Bolivien zu bringen, Guido, um gerüstet zu sein für den Fall, dass Che käme und ihn zum Soldaten beriefe, kaufte einen Rucksack.
Herr Fernández, alles in Ordnung?, fragt eine Pflegerin, die plötzlich in der Tür steht.
Alles gut, sagt Guido.
Sie drücken den Knopf, wenn Sie etwas brauchen?
Sí, sagt er, sí, den Knopf.
Und eines Tages, vielleicht im Herbst 66, fragte mich Lara Loyola, Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Jugend Boliviens, ob ich bereit sei, unserem Comandante zu folgen – falls. Nichts lieber als das. Ich wartete täglich, dass man mich rief. Und übte mit einem Kameraden heimlich das Schießen.
Wieder lacht Guido Fernández Argote auf und flüstert, ein guter Schütze sei er nie gewesen, ganz anders als der da drüben, sein stummer Schweizer Nachbar, der Dutzende von Medaillen neben dem Bett hängen hat, 100 Jahre Feldschützen Mumpf 1970, 100 Jahre Schützen-Verein Greifensee 1972, Herbst-Schiessen Wangen 1973, Thurg. Kantonalschützenfest Weinfelden 1976.
Che Guevara reiste über Moskau, Prag, Wien, Frankfurt, Paris, Madrid, São Paulo – am 4. November 1966 erreichte er, verkleidet und umbenannt, Adolfo Mena González, die Stadt La Paz, setzte sich, eine Zigarre rauchend, im Hotel »Copacabana« auf ein Möbel und fotografierte sich selbst im Spiegel von Zimmer 504.
Ein berühmtes Bild.
Weltberühmt, lobt Guido.
Und genau so, wie Comandante Che auf diesem Bild aussieht, habe ich ihn getroffen. Es war ein früher Nachmittag, Stadtviertel Sopocachi, in der Nähe der Avenida Ecuador, als ein Mann in ihre geheime Runde stieß, ein ernster Mensch, bartlos, mageres graues Haar, und er, Guido, habe gedacht, es handle sich um einen, der Che persönlich kenne, einen Mittelsmann vielleicht oder Gesandten.
Zwanzig Genossen seien sie gewesen und hätten dem Fremden, der so schön sprach, ohne Akzent und fehlerfrei, zugehört, der Befreiungskampf ist unsere Pflicht, der Befreiungskampf ist Wahrheit, das Volk, Genossen, wird siegen, der Tag ist nahe, Vietnam ist überall. Dann schrieb der Mann unsere Namen in seine Agenda, stand auf und ging.
Che! Wir merkten nicht, dass er es war, der zu uns gesprochen hatte, keiner hat es gemerkt, sagt Guido Fernández Argote und schüttelt den alten Kopf.
Mein Leben, sagt er, wäre ein anderes geworden – Zwei Tage später, am 7. November 1966, bereits im Operationsgebiet zwischen Sucre und Santa Cruz de la Sierra, begann Ernesto Che Guevara sein Bolivianisches Tagebuch, hoy comienza una nueva etapa, heute beginnt eine neue Etappe.
Guido, schütterer Bart, holt Luft.
Diese Etappe, sagt er leise, dauerte elf Monate.
Am 8. Oktober 1967 wurde unser Comandante in La Higuera verwundet und gefangen genommen, am 9. Oktober auf Befehl von Diktator Barrientos Ortuño feige erschossen. Und drei Tage später, am 12., wurde ich verhaftet.
Weil mein Name in Ches Agenda stand.
Guido greift zum Pinsel, Vögel und Schlangen, frei und wild.
Tausendmal lieber wäre ich an seiner Seite gestorben – In der Avenida 6 de Agosto sprachen drei Männer ihn an, du bist doch Guido Fernández Argote?, einer zog die Pistole, dann zwangen sie Guido ins Auto, brachten ihn in eine Kaserne, schlugen zu, du Sohn einer Hure, wer sind deine Kameraden, nenn uns Namen, nenn uns Orte, die Länder, wo du trainiert hast, sie schlugen und schrien, sagt Guido, die ganze Nacht lang.
Endlich sperrten sie den Mann in ein Erdloch unter dem Keller, fluteten es mit Wasser, damit er nicht schlafen konnte, manchmal nickte er ein, fand, als er aufschreckte, Ratten auf Bein und Bauch.
Vier Monate, sagt er.
Vier Monate die Angst, nur noch wenige Minuten zu leben.
Manchmal schlugen sie mit Latten und Riemen, bis er bewusstlos war, sie legten steinerne Platten auf seine Brust, bis er fast erstickte, drückten ihm brennende Zigaretten ins Fleisch, hier, sagt Guido, hier am Hals, hier am Fuß.
Vor Jahren, längst in der Schweiz, an einem gewöhnlichen hellen Tag, sei er in einen Zug der Schweizerischen Bundesbahn gestiegen, ein paar müde brave Soldaten darin, ihre Gewehre bei sich, und er, Guido, sei, als er die Soldaten sah, plötzlich ein anderer geworden, jemand, den er nicht kannte, der zu rennen begann, nur weg, nur weg, bis ans Ende des Zuges sei er gerannt, nur weg, und habe sich endlich auf eine Bank gesetzt und irgendwann, jenseits der Fenster, eine Landschaft entdeckt, sanfte Hügel, hohe helle Häuser, so ganz anders als in Bolivien, und endlich ein Bahnhofsschild, Winterthur.
Die Frucht meiner frühen Jahre, sagt Guido.
Manchmal holten sie ihn aus seinem nassen Loch und setzten ihn auf einen Stuhl, schreib auf, wen du kennst, schreib auf, mit wem du zur Schule gingst.
Und eines Tages, wieder auf seinem Stuhl, sagte der, der ihm zu schreiben befahl, ihm fehle ein Blatt Papier, schreib auf, was du weißt, ich bin sofort zurück.
Die Tür ließ er offen, sagt Guido. Zehn Minuten, zwanzig, vierzig – er kam nicht mehr. Eine Falle? Endlich habe er sich in den Flur gewagt, sich gedreht nach allen Seiten, nach jedem Geräusch, über Treppen sei er gelaufen, zuerst langsam, dann mutig, drei, vier, fünf Treppen, hinaus ans Licht, auf die Straße, Plaza Murillo, Calle Comercio, dort habe er ein Taxi angehalten und dem Fahrer die Adresse eines Bekannten genannt, Calle Yungas, Verzeihung, Señor, ich habe mein Geld verloren, bitte warten Sie hier, meine Schwester bringt sofort Ihren Lohn.
Guido Fernández Argote, die Hände an der Hose ohne Gurt, ging ins Haus, bat die Frau des Bekannten, das Taxi zu bezahlen. Nur Stunden blieb er dort, schlich dann, als es Abend wurde, zum Haus der Mutter, sie umarmte ihn, weinte leise, gab ihm neue Kleider und brachte ihn zu einer alten Frau, bat sie, ihren Sohn, zweiundzwanzig, zu verstecken.
Dort, im Haus dieser Alten, habe er zum ersten Mal gemerkt, sagt Guido, dass er ein anderer geworden sei, nächtelang habe er geweint und kaum geschlafen, das Gewächs, das man Jahre später, längst in der Schweiz, aus seinem Bauch schnitt – letztlich der Grund für seine Hepatitis C –, habe wohl damals zu wachsen begonnen.
Zwölf Tabletten am Morgen, sagt Guido, zwei am Mittag, neun am Abend, zwei vor Mitternacht. Und weil ich dann nicht mehr schlafen kann, setze ich mich hier an diesen Tisch und male, sagt Guido.
Das ist mein Leben.
Mein Ende.
Und eines Tages, irgendwann im Jahr 1968, brachte die Mutter alte Zeitungen ins Versteck, El Pueblo, Guido las und las, erfuhr erst jetzt, dass sein Kommandant, für den er zu sterben bereit war, Ernesto Che Guevara, längst tot war.
Er wischt eine Träne weg und schweigt, senkt den grauen Kopf, blickt dann stumm in die Wand, Eidg. Schützenfest Luzern 1979. Im Haus der alten Frau stand ein kleines Radio.
Am Abend des 27. April 1969 stellte ich es an. Und hörte, dass der Diktator tot war, abgestürzt mit dem eigenen Helikopter, Barrientos Ortuño, Che Guevaras Mörder. Endlich wagte ich mich wieder ans Licht, ich ging nach Haus zu Mama, wohnte wieder bei ihr, nahm mein Studium auf, meine Arbeit, Organización Clandestina de Lucha Antiimperialista. Am 1. Mai 1971 gründete Guido Fernández Argote die Sozialistische Partei Boliviens mit und vertrat im Zentralkomitee die Studenten.
Monate später, am Tag, als sich General Banzer Suárez an die Macht putschte, August 1971, überfiel er mit Genossen ein Waffenlager der Armee, stahl Gewehre und versteckte sich, bereit für den großen Kampf, in den Bergen um La Paz, übte dort, geleitet von einem italienischen Franziskaner, das Schießen.
Jetzt lacht er.
Nach einer Woche, als nichts geschah, gingen wir nach Hause. Die einzige militärische Aktion meines Lebens, sagt Guido, Bonsai im Regal. Wie jeder Präsident ließ auch der neue, Banzer Suárez, verhaften und foltern – im späten November 1971 setzte sich Guido Fernández Argote, sechsundzwanzig, in einen Bus nach Peru, um von dort ins gelobte Land Chile zu reisen, regiert von Salvador Allende, Sozialist, Antiimperialist. Ein Mann wies ihm den Weg durch die Wüste Atacama, halte diesen Berg vor Augen, dann bist du in fünf Stunden dort. Aber irgendwann habe er den Berg nicht mehr gesehen, sagt Guido, drei Tage und drei Nächte lang sei er durch die Ödnis geirrt, schlaflos und ängstlich, am Morgen, nach eisiger Nacht, habe er gefrorenen Tau von den Steinen geleckt, Vögel habe er gehört, wo keine Vögel waren, immer schwerer seien die Schritte geworden, leerer die Gedanken.
Dann sah ich eine Säule, die näher kam und ständig größer wurde, ich dachte, das bildest du dir nur ein, so ist es, wenn man stirbt – es war eine kleine Frau, eine Indianerin, das Gesicht wie Leder, sie nahm mich mit in ihr Dorf, gab mir zu trinken, zu essen, dann kam ihr Mann, ein Genosse, ich schlief ein, fast vierundzwanzig Stunden lang, und als ich erwachte, sagte er, man habe befürchtet, ich sei tot, einen Spiegel habe er mir nachts vor die Nase gehalten, um zu prüfen, ob ich noch lebe.
Herr Fernández, haben Sie einen Wunsch?, fragt die Pflegerin, die wieder in der Tür steht.
Alles gut, sagt Guido.
Sonst drücken Sie den Knopf.
Den Knopf, sí.
Dann sagt er: Comandante Che hat gewusst, dass er verraten würde.
Che hat sich geopfert.
Am 4. Dezember 1971 erhielt Guido Fernández Argote politisches Asyl in Chile.
Er zog in die Stadt Concepción, fünfhundert Kilometer südlich von Santiago, war Student und Lehrer, Mitglied der Gewerkschaft, ein Leben in Freiheit und Sozialismus. Bis am 10. September 1973.
Ich verstand nicht, weshalb ich verhaftet wurde, ich begriff nicht, dass ein Putsch im Entstehen war, Pinochet gegen Allende. Man brachte mich in eine Kaserne, schlug zu wie einst in Bolivien, das ich verlassen hatte, wer bist du?, wen kennst du?, was machst du?
Zwei Tage später, in der Marinebasis von Talcuhano, legten sie Guido Fotos vor, kennst du den?, kennst du die?, Guido kannte keinen, drei Offiziere kamen in den Raum, sprachen das Urteil, Hinrichtung auf der Insel Quiriquina. Er greift zum Pinsel, setzt an zu einem Strich, bricht ab.
Der mein Leben erfunden hat, ist ein Satiriker. Oder ein Sadist. Vielleicht beides.
Guido dreht sich zum Fenster. Manchmal, sagt er, schaue ich den Vögeln zu, deshalb das Fernglas auf diesem Tisch.
Mit sieben anderen führten sie Guido Fernández Argote auf ein Schiff, ketteten ihn ans Geländer, das Meer war wild und stürmisch, Guido erbrach, immer wieder, endlich erreichten sie die Insel, einen Sportplatz, stellt euch hier auf, alle in einer Reihe, fünf Meter Abstand. So standen wir in der Sonne, stundenlang. Ein Offizier, laut genug, dass alle es hören konnten, sagte: Morgen früh seid ihr dran – bei Mole 14.
Mole 14.
So ist es also, wenn es ans Sterben geht – Guido stützt den Kopf in die linke Hand, kratzt mit der rechten im Haar.
Mole 14.
Die letzte Nacht vor sich, habe er den Stoff seiner Kindheit gerochen, die dampfenden Bohnen der Mutter, den schweren Rock des Vaters, Mamas Tränen habe er gesehen, wenn ihr Geld nicht reichte, um Brot zu kaufen für ihn, Guido, und seinen kleinen Bruder, an jenen Tag habe er sich erinnert, als er in einer Schublade ein Buch entdeckte und darin zu lesen begann, bis die Mutter ihn fragte, Guido, hast du mein Buch genommen?
Ja, Mama.
Dann lies mir daraus vor.
Abend für Abend, wenn sie am Stricken war, las ich meiner Mutter vor, ich las, dass Gott die Welt nicht in sieben Tagen schuf, dass die Welt, so weit der Mensch sieht, vor Zehntausenden von Millionen Jahren mit einem Urknall entstand, ich las von Darwin und seinen Theorien, dass der Mensch vom Affen abstammt und nichts anderes ist als ein Tier unter Tieren – dies alles sah ich in meiner letzten Nacht.
Und hörte mein Schluchzen und das der anderen.
Mole 14.
Hinlegen.
Sie legten sich hin, acht Männer vor der Exekution, Soldaten traten auf ihre Hände und ihre Rücken, schlugen ihre Stiefel in die Rippen der Gefangenen, brachen Guidos Nase.
Aufstehen.
Sie standen auf.
Umdrehen.
Wir drehten uns um und sahen die Gewehre, angelegt auf uns, drei Gewehre für jeden, der nun sterben wird.
Und dann – Irgendwann, nach langen Sekunden, der Schrei eines Offiziers: Nicht heute, erst morgen.
Wieder eine letzte Nacht, die Tränen der Mutter – da habe er sich, sagt Guido im Zimmer 111 seines Pflegeheims im Zürcher Oberland, an eine Botschaft von Comandante Che Guevara erinnert, siempre hay un oído receptivo, es gibt immer ein offenes Ohr, und also habe er, sagt Guido, beschlossen, mit gestrecktem linkem Arm und geballter Faust vor seine Henker zu treten und zu schreien, mein Name ist Guido Fernández Argote, ich bin ein stolzer Bolivianer.
Am nächsten Tag, September 1973, holten sie mich aus dem Kerker, man hielt mich für einen Priester mit Namen Fernández, ich weiß nicht, was geschah und weshalb, sie führten mich auf ein Schiff und brachten mich hinüber aufs Festland, dort ließen sie mich frei, hau ab, du dreckiger Bolivianer.
Guido, begleitet von einem Genossen, reiste in die Hauptstadt Santiago, Soldaten überall, jemand erzählte, der schwedische Botschafter in Chile, ein gewisser Harald Edelstam, nehme Verfolgte auf und bringe sie, von den Vereinten Nationen vermittelt, nach Europa.
Ende November 1973 saß Guido Fernández Argote in einem Flugzeug, Göteborg, so hieß es, sollte die neue Heimat sein, Göteborg – das Flugzeug landete in Zürich.
Ein Polizist trat ins Flugzeug und rief meinen Namen.
Ich dachte, ich sei für Schweden bestimmt, nicht für die Schweiz, ich schwieg.
Guido Fernández Argote?
Ich schwieg, doch dann holten sie mich aus dem Flieger, mir war es egal.
Seither bin ich hier, jenseits des Dschungels.
Und stelle ich, lacht Guido, den Pinsel in der Rechten, die Linke auf dem Bauch, und stelle ich hier das Radio an, weiß ich sofort, was meine Welt ausmacht, Börsenbericht, Verkehrsbericht, Pollenbericht.
Vier Wochen im Transitzentrum Altstätten der Schweizerischen Eidgenossenschaft, drei Monate im Haus eines Ehepaars am Zürichsee – Guido schwitzte vor Angst und schrie, als die Kinder des Dorfes, wie es Brauch ist, kurz vor Weihnachten den Schulsilvester feierten, früh am Morgen durch die Straßen zogen und Böller und Raketen zündeten, schon wieder ein Putsch, ich dachte, nun holen sie mich, sie holen mich schon wieder, endlich kam die Frau ins Zimmer, dann ihr Mann, Guido, sono bambini, bambini, beruhig dich, alles ist gut.
Sein Trauma, sagt er, habe er nie behandeln lassen.
Wahrscheinlich ein Fehler.
Guidos Betreuerin wusste von einer Wohngemeinschaft in Zürich, Belsitostrasse, Guido Fernández Argote, neunundzwanzig, zog in den Stadtkreis 7, junge fröhliche Menschen füllten das Haus – Che Guevara an der Wand, Marx, Lenin, Mao.
Am 4. August 1974, seit neun Monaten in der Schweiz, begann er seine Arbeit bei der Schweizerischen Bankgesellschaft, sortierte, angeleitet von einer jungen Frau, die Post, Monate später zog er zu ihr, Margrit.
Wie ging es weiter?, fragt er.
Die Gallenblase, 1976 – man operierte mich in Zürich, operierte nach vier Stunden noch einmal, ich blutete, hörte nicht auf zu bluten, war ohne Puls, sie gaben mir Blut, Beutel nach Beutel, fünfundzwanzig, einer war verseucht, Hepatitis C.
Mi vida, mein Leben.
1977 schrieb sich Guido am Institut Universitaire dÉtudes du Développement ein, lebte während der Woche in Genf, reiste ab und zu nach Paris an die Sorbonne, putzte, um zu Geld zu kommen, nachts die Flugzeuge der Swissair.
Wie ging es weiter?
Guido, grau und müde, greift zum Fernglas, dreht sich zum Fenster, hebt das Glas vor die Augen, seit Tagen, immer zur gleichen Zeit, singt da draußen eine Amsel.
Er sucht und schweigt, setzt jetzt das Fernglas auf den Tisch.
Heute singt sie nicht.
Sie singt nicht mehr.
Guido schiebt die Schultern hoch, er atmet laut, kratzt sich am Hals.
Der Rest sei schnell erzählt, 1980 die Geburt von Michael, 1983 die Heirat mit Margrit, zwei Wochen nach der Hochzeit die Geburt von Marysol, Abschluss in Genf, dann an der Sorbonne, 24. Juni 1983, Doctorat de 3 cycle en études de l’amérique latine, 1158 Seiten über Structures agraires, domination interne et dépendance externe en Bolivie, schließlich die Rückkehr nach Zürich, Nachtarbeit in der Spedition des Tages-Anzeigers, Abwart im Huttenschulhaus, Abwart im Lettenschulhaus, ab und zu nach Bolivien, nach Chile, ab und zu eine andere Frau, 2002 die Scheidung, 2009 die Pensionierung, 2011 die neue Leber, die nun, Guido weiß es seit Wochen, krank ist, Krebs, mi vida loca.
Sie werden sehen, wie ein Mann stirbt – Ches letzte Worte, bevor die Kugel ihn traf. Aber jetzt, weint Guido Fernández Argote, geboren am 19. Oktober 1945 am Rand von La Paz, jetzt sei er hier im Heim Vita Futura, Zimmer 111, zwölf Tabletten am Morgen, zwei am Mittag, neun am Abend, zwei vor Mitternacht, Börsenbericht, Verkehrsbericht, Pollenbericht, nein, er mache Comandante Che Guevara keinen Vorwurf, dass er ihn nie in den Dschungel mitnahm, Deckname Mateo.
Fotos: Simon Habegger, Gettyimages