Zeichen der Zeit

Ägypten, Libyen, Syrien, Tunesien - jetzt kommen die politischen Umstürze auch auf den Wänden der Städte an: Die arabischen Länder entdecken die Street Art.

»Bist du verrückt, komm da runter!«, schreien die anderen Demonstranten, als er sich mitten auf dem Platz an dem Eisengestänge hochzieht, das das Regierungsplakat hält. Polizisten haben die Zugänge zum Tahrir-Platz abgeriegelt. Nur wenige hundert Meter entfernt knüppeln sie Regimegegner nieder. Doch Ganzeer zieht – allein auf dem Gerüst – seine Waffe aus dem Rucksack: eine Farbdose. Und sprüht hastig in krakeligen, schwarzen Buchstaben die unerhörte Botschaft auf die Rückseite des Plakats: »Weg mit Hosni Mubarak!« Die Menschen in der Menge unter ihm jubeln, recken ihre Fäuste in den klaren blauen Himmel und schwenken die ägyptische Flagge.

»Ich wollte eine Botschaft hinterlassen«, sagt der 29-jährige Grafikdesigner heute über diesen Moment am 25. Januar dieses Jahres. »Es war der erste Tag des Aufstands – und damals konnte ja keiner wissen, dass daraus eine Revolution entstehen würde. Viele von uns rechneten damit, dass Panzer den Platz räumen würden, der Protest unterdrückt und der Geist des Tahrir schon am nächsten Tag im Kairoer Stau untergehen würde. Jeder, der hier vorbeikommt, sollte sehen, was hier los war.«

Doch es kam anders. Die Revolution ging weiter. Und Ganzeers gesprühte Parolen fanden immer mehr Nachahmer. Während der letzten Monate haben sie ganze Straßenzüge in der grau betonierten Riesenstadt Kairo in eine farbenfrohe Open-Air-Galerie verwandelt. Und nicht nur hier: Überall in der arabischen Welt, in Alexandria, Tunis, Tripolis und Bengasi, sind in den vergangenen Monaten Mauern und Gebäude zu Leinwänden der Revolutionäre geworden. Kein Fußgänger, kein Autofahrer kommt an der Straßenkunst vorbei und kann sich ihrer eindringlichen Macht entziehen.

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Hilflos wirken Aufnahmen aus Bahrain, die zeigen, wie mit Gewehren und Malerrollen bewaffnete Polizisten den Protestaufruf an einer Hauswand mit weißer Farbe überpinseln. Das Assad-Regime in Syrien hat im Umgang mit den Protestierenden viele Fehler gemacht – aber wahrscheinlich keinen größeren, als eine Gruppe Kinder verhaften und foltern zu lassen, die einen revolutionären Slogan an eine Schulwand in der südlichen Stadt Deraa gekritzelt hatten. Die Entrüstung über diese Härte des Staates hat aus einer lokalen Revolte einen landesweiten Volksaufstand gemacht, den selbst der brutale syrische Geheimdienstapparat nicht stoppen kann. Seit mehr als acht Monaten nicht.

Die Hauptstadt des Revolutionsgraffito ist jedoch Kairo, und die Motive der politischen Straßenkunst sind der Gradmesser für den Gemütszustand des Landes und seiner Revolutionäre. Da sind all die Jubelgraffiti, aber auch die wütenden Forderungen nach mehr Reformen. Sarkastische Botschaften beklagen die Nähe des seit Februar regierenden Militärrats zum alten Regime. Manche Wandgemälde blicken zurück und gedenken derer, die für die Revolution ihr Leben ließen. Andere erzählen vom Frust und der Enttäuschung, die die postrevolutionären Zeiten mit sich bringen.

Für die Protagonisten der Sprüher-Szene ist diese Vielfalt der sichtbare Beleg für den neuen Bürgergeist im Lande. »Vor der Revolution existierte hier keine nennenswerte Straßenkunst-Szene«, sagt der Graffiti-Künstler Ganzeer, der eigentlich Wirtschaft studiert hat, inzwischen aber als Grafikdesigner sein Geld verdient. Beäugt und beaufsichtigt von den allgegenwärtigen Spitzeln bewegten sich die meisten Ägypter jahrzehntelang wie Statisten des Staats durch den öffentlichen Raum. »Auf den Gedanken, dass die Straßen uns, den Bürgern, gehören, kam einfach niemand«, sagt der Sprayer El Teneen. Wie viele in der Stadt ist der Astrophysiker quasi über Nacht zum Sprayer geworden. Dass manche seiner Arbeiten – vor allem seine Kritik an Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, dem undurchsichtigen Chef des Militärrats – nicht von der Polizei, sondern von Nachbarn und Passanten sofort wieder übermalt oder zerkratzt werden, stört ihn nicht. Die neu gewonnene Meinungsfreiheit, so sehen es El Teneen und auch Ganzeer, gilt eben für alle.

Mit ihren Sprühflaschen und Schablonen wollen sie etwas provozieren, was es in Ägypten seit Langem nicht mehr gegeben hat: einen offenen und öffentlichen politischen Dialog. Denn der ist, kaum begonnen, schon wieder in Gefahr: »Dem Militärrat ist es gelungen, Stimmung gegen die Demonstranten vom Tahrir-Platz zu machen«, sagt El Teneen. Immer öfter werden die Aktivisten als Störer der öffentlichen Ordnung oder Handlanger ausländischer Interessen gebrandmarkt. Propaganda, die gern geglaubt wird; die Euphorie über den Sturz Mubaraks ist bei Millionen von Ägyptern längst in bittere Ernüchterung umgeschlagen. Seit der Revolution ist das Leben für viele noch härter geworden.

Die große Sorge, dass die Revolution einschlafen könnte, treibt die Sprayer weiter auf die Straßen. Mit Bedacht hat Ganzeer für das Porträt von Seif Allah Mustafa, 16 Jahre alt, eine Wand vor dem Obersten Gerichtshof in Kairo ausgewählt. Jeden Tag müssen nicht nur die Richter und Staatsangestellten, sondern auch Tausende revolutionsmüder Passanten dem Schüler, der während der Proteste in Kairo erschossen wurde, in die Augen blicken. Die Botschaft ist klar: Dieser Junge soll nicht umsonst gestorben sein!

Ägypten:
Im heißen Sommer der ägyptischen Revolution wurde auch der Mittag zur Stunde der Graffiti-Künstler. Denn in der Mittagshitze waren die Straßen leer - die beste Zeit, um regimekritische Parolen an den Wänden zu hinterlassen. Heute gilt der Spott der Sprayer vor allem dem Militärrat. Die Generäle sind dabei, die Revolution auszubremsen. Während auf den Straßen der Kampf um die politische Zukunft des Landes tobt, haben Kunstsammler und Konzerne das Revolutionsgraffito schon für sich entdeckt. Pepsi etwa ließ Werbebotschaften auf Mauern malen - und erregte so den Zorn der Kairoer Sprayer.

Libyen:

 »Abu Schafschufa« - der mit der Lockenmatte: Das ist noch einer der harmloseren Spottnamen, mit denen die Libyer den vor ein paar Wochen noch gefürchteten Diktator Gaddafi verhöhnen. Die wirre Mähne des Machthabers inspirierte schon vor seinem Tod die Sprayer zu immer neuen, schrägen Porträts. Die durchgeknalltesten »Abu Schafschufas« stammen von Kais al-Hilali. Der 34-jährige Sprayer wurde Mitte März von Gaddafi-Anhängern mit einem Genickschuss getötet. Zu der Zeit war Bengasi, die Stadt im Osten Libyens, schon in Rebellenhand, und die Sprüher überzogen erst das Rebellen-Hauptquartier mit ihren Werken und dann die ganze Stadt.

Tunesien:
Weiße Wände, sprachlose Bürger - so ist es während der 23-jährigen Herrschaft Zine el-Abidine Ben Alis immer gewesen. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätten die Tunesier sich vorstellen können, dass es ihnen je gelingen könnte, die Regierungspartei RCD wegzufegen. Nun ziehen sie mit Rucksäcken voller Sprühfarbe durch die Straßen mit den Villen der geschassten Ben-Ali-Sippe. Häuser, in deren Richtung sie früher nicht einmal zu blicken wagten.

Syrien:
»Al-Assad ila al-abad» – »Al-Assad für immer«: Diesen Leitspruch haben die Kalligrafen des syrischen Diktators Baschar al-Assad seit Jahren zigtausendfach an Kasernenwände, Autobahnbrücken und Schulhofmauern gepinselt. Widerspruch undenkbar. Bis zum 6. März 2011. Da schrieben ein paar Teenager aus Deraa einen unerhörten Slogan an die Wand ihrer Schule: »Das Volk will den Sturz des Systems«. Der lokale Geheimdienstchef, ein Cousin des Präsidenten, ließ die Kinder festnehmen und befahl, ihnen die Fingernägel auszureißen. Die Empörung darüber erfasste das ganze Land. Der Aufstand gegen al-Assad – er begann mit einem Graffito.

Fotos: Shawn Baldwin (4), Actionpress, Getty (2), AP