Die Reifenprüfung

Auf dem Fahrrad durch ganz Patagonien. Mit kleinen Kindern. Unmöglich? Eine Thüringer Familie hat es trotzdem gewagt. Beim Tachostand von 3800 Kilometern haben wir mal nachgefragt, wie es so geht. Da waren sie gerade in Südchile.

SZ-Magazin: Ihre kleine Tochter ist gerade mal zwei Jahre alt. Ist das nicht ein bisschen jung für eine Fahrradtour durch Südamerika?
Axel Bauer: Aber nein, das ist nur eine Frage des Reisezieles. Für Patagonien sind keine speziellen Impfungen notwendig, es besteht keine Malaria- oder Gelbfiebergefahr. Mit Smilla, unserer ältesten Tochter, sind wir bereits ein halbes Jahr durch Neuseeland geradelt. Beim Start war sie gerade einmal fünf Monate alt. Auch damals gab es keine Probleme, Smilla war nicht einen Tag krank. Kleinkinder sind sehr flexibel, sie passen sich schnell veränderten Bedingungen an. Für Selma, die Jüngere, ist diese Reise inzwischen selbstverständlich und könnte ewig so weitergehen – Reisen ist für sie der Normalzustand.

Wo genau sind Sie gerade?
Wibke Raßbach: Wir sind auf der Carretera Austral in Südchile unterwegs. Eigentlich ist das eine Piste für abgebrühte Abenteurer, auf der man kaum Familien trifft. Schon gar nicht auf dem Fahrrad. Bei uns ist es jetzt Abend, wir sitzen in einem kleinen Dorf namens Villa Manuhuales in einer »Casa de Ciclistas«, einem Privathaus, das reisenden Radfahrern offen steht. Ein Mann hat uns vor ein paar Stunden angesprochen und uns zu sich eingeladen. Er hatte noch etwas zu erledigen, drückte uns einfach seinen Haustürschlüssel in die Hand und sagte: »Waschmaschine, Dusche, Internet, alles da. Fühlt euch wie zu Hause.« Das ist doch ein Wahnsinn, oder?

Sind Sie oft eingeladen worden?
Raßbach: Vor allem in Argentinien, vor allem wegen unserer Kinder. Je weniger ein Gebiet touristisch erschlossen ist, desto herzlicher und gastfreundlicher sind die Leute. In Argentinien hat man uns gleich vier Mal fürs Fernsehen interviewt, so selten sind da Radreisende. Da war unsere Karawane natürlich eine kleine Sensation.

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Wie lange sind Sie schon unterwegs?
Raßbach: Seit Anfang Oktober. Wir sind in Buenos Aires gestartet und fahren durch Argentinien und jetzt Chile. Die meiste Zeit haben wir im Süden der beiden Länder verbracht, in Patagonien. In vier Wochen fliegen wir von Santiago de Chile aus zurück nach Deutschland.Wie viele Kilometer haben Sie hinter sich?

Bauer: Der Tacho steht bei etwa 3800 Kilometern. Darunter waren viele Schotterstraßen, auf denen wir nur elf Stundenkilometer geschafft haben. Die schönsten und einsamsten Flecken Erde sind wohl nur über Wellblechpisten zu erreichen. Aber wir haben uns keine feste Route vorgenommen, sondern lassen uns treiben. Wir müssen lediglich darauf achten, ein Dorf mit Laden zu erreichen, bevor unsere Essensvorräte alle sind.

Wo war es auf der Strecke am schönsten?
Bauer:
Verdammt schwer zu sagen. Patagonien ist so reich an magischen Orten, die uns verzaubert haben: ein Tal, eine weite Ebene oder gestern Abend der Lagerplatz am Gletscherfluss. Die Kinder haben natürlich andere Kriterien: Ein Platz, um im Matsch zu spielen, mit vielen Steinen und Stöcken oder eine Blumenwiese stehen bei ihnen höher im Kurs als Orte mit perfekter Aussicht.

Gab es auch einen Ort, den alle vier Familienmitglieder scheußlich fanden?
Raßbach: Wir sind kürzlich mit einem schaukelnden, staubigen, stickigen Bus gefahren, in dem uns allen schlecht wurde. Wir waren heilfroh, als wir später wieder auf unseren Rädern saßen.

Brenzlige Situationen erlebt?
Bauer: Jedes Überholmanöver kann gefährlich werden. In Argentinien haben wir einen langen Stock mit Fahne zum Abstandhalten ans Rad montiert – und ein Schild »Niña a bordo«, Mädchen an Bord.

Auch mal Angst bekommen?
Bauer: Zweimal. Vor ein paar Tagen waren wir auf einem Rodeo; als wir gehen wollten, war Smilla plötzlich verschwunden. Wir mussten sie ausrufen lassen, ein Gaucho brachte sie uns wieder. Sie wollte schon allein zurück zum Zelt laufen. Das andere Mal sind Wibke und die beiden Mädels barfuß beinahe auf eine große Schlange getreten. Später stellte sich aber heraus, dass sie nicht giftig war.

Wo haben Sie geschlafen, wenn niemand Sie eingeladen hat?
Raßbach: Im Zelt, manchmal in günstigen Pensionen.

Was nimmt man mit für ein halbes Jahr unterwegs?
Raßbach: Im Prinzip das Gleiche, was man auch für eine Woche packen würde – plus Waschbürste. Unsere Räder dürfen nicht zu schwer für steile Anstiege und Schotterpisten sein.

Wer kam auf die Idee, mit dem Fahrrad durch Patagonien zu fahren?
Bauer: Wibke, kurz nach Selmas Geburt. Im Sommer 2011 haben wir eine vierwöchige Testtour durch Finnland unternommen, danach haben wir auf Patagonien gespart.

Wie viel Geld braucht denn eine Familie in Südamerika?
Bauer: Jedenfalls mehr, als wir gedacht hatten, obwohl wir keine Fahrtkosten haben. Aber das Essen ist teuer im abgelegenen Süden. Wir geben zwischen dreißig und fünfzig Euro am Tag aus. Wir haben uns das zusammengespart. Ich arbeite in Deutschland als Designer und Innenarchitekt, Wibke im Waldkindergarten. Außerdem verdienen wir etwas Geld mit Diavorträgen über unsere Reisen.

»Die Leute vor Ort wissen schon, wo es schön ist«

Warum ausgerechnet Patagonien, warum mit dem Fahrrad?
Raßbach:
Natur entspannt die Kinder und gibt ihnen viele Möglichkeiten zum Spielen. Der langsame Rhythmus beim Radfahren gefällt uns allen vieren. Wir Eltern bewegen uns viel, das entspannt. Die Kleinen erleben jeden Tag genügend Abenteuer, die ihnen Stoff für Indianer-, Trapper- oder Piratenspiele liefern.

Wechseln Sie sich ab beim Kindertransport?
Bauer:
Nein. Wir haben ein Tandem gekauft, auf dem Smilla mit ihren fünf Jahren ihrer Mama beim Treten helfen kann – wenn sie will. Das zweite Team bilden Selma und ich, Selma sitzt im Anhänger. Da verstauen wir auch Essen für zwei bis drei Tage, je nach Straßenzustand und Wind reicht das für 150 Kilometer. Unsere Ausrüstung mit Zelt, Schlafsäcken, Isomatten, Klamotten, Spielzeug, Kochzubehör, Fotoapparat und Computer haben wir in sechs Satteltaschen verstaut.

Ist so eine lange Strecke nicht viel zu anstrengend?
Raßbach: Auf der Carretera Austral mit ihren vielen steilen Schotteranstiegen und dem starken Wind ist das Vorwärtskommen manchmal hart. Aber wir haben langsam angefangen und uns im Laufe der Reise gesteigert.

Haben Sie gute Fahrräder?
Bauer: Und ob. Unsere Räder waren so teuer wie ein neues Auto. Alle wichtigen Teile haben wir über Jahre hinweg getestet.

Wie oft mussten Sie schon Reifen flicken?
Bauer: Ich habe nicht mitgezählt, aber sicher zehn Mal. Dazu ein Speichenbruch, Bruch des Gepäckträgers, Probleme mit den Zeltreißverschlüssen, der Kocher war verstopft, das Messer verschwunden. Eine Fahrradtour wird nie langweilig.

Wie viele Kilometer schaffen Sie an guten Tagen?
Bauer: Bei Rückenwind auf einer Teerstrasse mit wenig Bergen hundert Kilometer. Aber gute Tage gibt es in Südamerika selten. Im Schnitt sind es fünfzig Kilometer.

Mal überhaupt keine Lust gehabt, aufs Rad zu steigen?
Raßbach: Kommt vor. Dann wird es Zeit, etwas anderes zu machen. Wir müssen ja nicht jeden Tag weiterfahren.

Sind Sie oft ein Stück mit dem Zug oder Bus gefahren?
Raßbach: Aus Buenos Aires heraus haben wir den Bus genommen. Der Stadtverkehr ist einfach zu gefährlich. Dann sind wir noch mal 500 Kilometer im Bus durch die einsame argentinische Pampa gefahren. Auf Rädern hätten wir es nicht bis zum nächsten Laden geschafft. Aber Busfahren ist nicht schön: Man sieht wenig und es wird einem schnell schlecht. Wir vermeiden den Bus, wenn nur irgend möglich.

Haben Sie viele Weltenbummler kennengelernt?
Raßbach: Gerade heute haben wir Jonathan aus den USA getroffen, der seit sieben Jahren zu Fuß mit Rucksack unterwegs ist. In Mexiko arbeitete er bei einer Familie und bekam als Dank einen Esel geschenkt, mit dem er bis Brasilien gelaufen ist. Leider ist der Esel dort an einem Schlangenbiss gestorben und Jonathan ist seitdem wieder alleine.

Sind auch viele Familien unterwegs?
Raßbach: Nein, Südamerika klingt für viele Eltern vielleicht zu abenteuerlich. Aber in Neuseeland haben wir vor fünf Jahren eine französische Familie kennengelernt. Die waren mit drei Kindern – drei, acht und zwölf Jahre alt – auf dem Rad unterwegs. Alle hatten leuchtende, wache Augen und sahen kerngesund aus. Das hat uns begeistert. Ansonsten haben wir nur von anderen Familien auf Weltreise gelesen.

Auf dem Portal weltreise-mit-kind.de treffen sich 2700 Familien, die mit dem Gedanken spielen. Haben Sie dort auch Tipps ausgetauscht?
Bauer: Nein. Das Credo solcher Seiten ist meist: Reisen mit Kindern – kein Problem. Ideen für eine Reise und die nötige Erfahrung sollte jeder selbst sammeln und sich nicht von rosigen Erinnerungen anderer verleiten lassen. Aber Infos aus solchen Blogs sind eine gute Ergänzung, wir haben ja auch einen eigenen: abenteuerkultur.de.

An was sollte man vor Reiseantritt unbedingt denken?
Raßbach: Vor der Abreise hat man meist überhaupt keine Zeit, an irgendetwas zu denken. Man sollte eine Auslandskrankenversicherung abschließen und gute Bücher mitnehmen: Wir haben Pablo Nerudas Gedichte und Das Abenteuer des Miguel Littín – Illegal in Chile von Gabriel García Márquez eingepackt.

Schweißt so eine Tour zusammen? Hat es Ihrer Familie gut getan?
Raßbach: Auf jeden Fall – schon allein, weil wir mal wieder richtig viel Zeit zusammen verbringen. Wir fühlen uns wie eine richtige Abenteurer-Familie. Trotzdem gibt es natürlich Streit wie in jeder anderen Familie auch.

Was macht man, wenn man sich mal auf den Wecker geht, aber sich auf der Reise kaum aus dem Weg gehen kann?
Bauer: Man muss die Dinge, die einen nerven, einfach schneller ansprechen und lösen. Außerdem hat jeder von uns während des Radelns viel Zeit zum Nachdenken und Abreagieren – am Abend sind wir alle ganz friedlich. Obwohl wir 24 Stunden am Tag direkt hintereinander hocken, streiten wir viel weniger als zu Hause.

Würden Sie die Reise genau so noch mal planen oder irgendetwas anders machen?
Raßbach: Unser einziger Plan war der Hin- und Rückflug. Zwischen dem Startpunkt Buenos Aires und dem Zielort Santiago de Chile blieb unsere Route völlig offen. Die Leute vor Ort wissen schon, wo es schön ist. Eine neue Reise würde dadurch auch wieder völlig anders aussehen.

Hat niemand Heimweh bekommen?
Raßbach:
Alle vier, ständig. Aber aus der Ferne sieht unser Dorf im Thüringer Wald schöner aus, als es dann im Alltag tatsächlich ist. Smilla vermisst ab und zu ihren Kindergarten und ihre beiden Omis. Doch der riesige Abenteuerspielplatz Patagonien lässt sie das Heimweh immer schnell wieder vergessen – sie ist einfach zu beschäftigt.

Schon Pläne für die Zeit nach der Rückkehr?
Bauer: Selma will mit ihrer Püppi spielen. Smilla freut sich auf Klöße und Rouladen von der einen Omi und die Linsensuppe von der anderen. Wibke wird gute Musik auflegen, die sie lange nicht gehört hat, und ich zum Langlaufen gehen, wenn noch irgendwo Schnee liegt.

Wohin geht’s als nächstes?
Bauer: Smilla will nach China, Wibke nach Ecuador, ich nach Kirgistan und Selma irgendwohin, wo es Schokolade gibt.

Fotos: Axel Bauer, Wibke Raßbach