Zwölftausend Stunden Zweitfamilie

Kinder verbringen fast so viel Zeit in der Schule wie zu Hause. Sollten Lehrer da nicht etwas mehr leisten als nur Unterricht?

Alle reden von der Schule. Alle wollen mehr und bessere Bildung. Klingt gut. Wir möchten jedoch zu jener Frage zurückkehren, die den Kern der Bildungsdebatte darstellt: Was für eine Schule brauchen unsere Kinder? Denn nur eine Schule, die sich an den grundlegenden Entwicklungsbedürfnissen des Kindes orientiert, kann kindgerecht sein.

Ohne Beziehung geht nichts Ein Kind muss sich geborgen fühlen, in den ersten Lebensjahren bei seinen Eltern, später dann bei seiner Lehrerin. Für eine tragfähige Beziehung müssen aus Sicht des Kindes die folgenden Faktoren stimmen: ausreichend Zeit für Begegnungen – auch außerhalb des Unterrichts –, Kontinuität und Verlässlichkeit der Bezugspersonen. Und die Beziehung und Akzeptanz dürfen nicht nur von der schulischen Leistung abhängig gemacht werden. Manche mögen dies als Plädoyer für eine Kuschelpädagogik belächeln. Gerade ihnen sei gesagt, dass emotionale Geborgenheit die Grundlage zur Leistungsbereitschaft liefert – nicht nur bei Kindern.

Eine gute Beziehung verbessert nicht nur die Lernbereitschaft, sondern führt letztlich auch zu besseren schulischen Leistungen. Das gilt auch umgekehrt: Bringt ein Kind schwache Leistungen oder stört es oft den Unterricht, liegt es oft auch an einer mangelhaften oder gar fehlenden Beziehung zum Lehrer.

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Die Schule erzieht mit

Für manche, insbesondere konservative Kreise ist der Fall klar: Für die Erziehung (respektive Sozialisierung) sind die Eltern zuständig, für die Bildung der Staat. Beides ist in dieser Absolutheit falsch. Ein Kind verbringt allein während seiner obligatorischen Schuljahre 10 000 bis 12 000 Stunden in der Schule – oft ein Vielfaches der mit den Eltern aktiv verbrachten Zeit. Deshalb ist es schlicht unmöglich, dass die erzieherische Verantwortung einzig bei der Familie liegen kann.

Es steht außer Frage, dass die kind-gerechte Schule der Zukunft mehr betreuen muss und sich nicht mehr aufs ausschließliche Unterrichten beschränken kann. Sie muss den Kindern sinnvolle Erfahrungsmöglichkeiten anbieten, weil viele Kleinfamilien selber diese Leistungen nicht mehr erbringen können. Das hat nichts mit der »Züchtung von Staatskindern« zu tun, aber viel mit Chancengerechtigkeit.

Individueller Unterricht

Eine kindgerechte Schule ist eine individualisierte Schule. Anders kann sie die immense Vielfalt innerhalb einer einzigen Schulklasse nicht auffangen. Obwohl die Kinder einer Schulklasse in der Regel denselben Jahrgang haben, steht die Lehrerin bereits in einer ersten Klasse vor Schülern mit riesigen Entwicklungsunterschieden. Die leistungsmäßig besten Erstklässler sind bereits so weit wie Drittklässler, die schwächsten gerade mal auf dem Niveau des ersten Kindergartens. Diese Unterschiede zwischen den Kindern weiten sich im Verlaufe der Schulzeit immer stärker aus.

Trotzdem sind nach wie vor Lehrpläne maßgebend, die für alle Kinder Gültigkeit haben sollen. Schlägt die Schule weiterhin jedes Kind über den gleichen Leisten, wie sie das in der Vergangenheit getan hat, wird man die einen Kinder zwangsläufig unterfordern und andere überfordern. Diese Kinder werden auf die Dauer entmutigt und verabschieden sich innerlich von der Schule – oder aber sie werden aus Protest verhaltensauffällig.

Kompetenzraster statt Noten

Meint es eine Schule wirklich ernst mit dem individualisierten Unterricht, dann ist es nur konsequent, die bisherigen kollektiven durch individuelle Lehrpläne zu ersetzen. Dies wiederum würde auch das Ende von Einheitsprüfungen und des konventionellen Notensystems bedeuten. Denn warum soll man die Latte bei allen Schülern gleich hoch ansetzen, wenn sie doch einen völlig unterschiedlichen Entwicklungsstand aufweisen? In einem individualisierten Unterricht lernen Kinder auch ohne Notendruck.

Die Forderung nach Abschaffung der Noten mag quer stehen zu den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft, obschon die Ungenauigkeit und Ungerechtigkeit bei der Notenvergabe seit Jahren wissenschaftlich belegt ist. Bemerkenswert ist allerdings, dass ausgerechnet die Wirtschaft immer öfter eigene Leistungstests durchführt, weil sie den Zeugnisnoten misstraut. Der Lehrmeister will wissen, was eine Zwei in Deutsch oder Mathematik konkret heißt, weil »gut« nach seiner Erfahrung je nach Schule etwas anderes bedeutet.

Ganzheitliches Lernen

Gerade die aktuelle Krise zeigt, wie gefährlich die kurzfristigen Ansprüche der Wirtschaft an die Schule sind. Noch vor einem halben Jahr hielten viele eine Bankkarriere für den sichersten und einträglichsten Weg. Fast über Nacht ist alles anders geworden. Wir brauchen keine kleinen Fachidioten, sondern Kinder, die ganzheitlich gefördert werden. Längerfristig ist mit einem solchen Ansatz nicht nur dem Individuum, sondern auch der Gesellschaft am besten gedient, weil sich auf diese Weise am meisten Menschen beruflich und sozial integrieren lassen.

Das oberste Ziel einer kindgerechten Ausbildung besteht nicht in einem Zeugnis mit lauter Einsen in Wissen und Fertigkeiten, sondern in einem guten Selbstwertgefühl aller Schüler. Ein gutes Selbstwertgefühl kann nur entstehen, wenn das Kind die Schule erfolgreich bestehen kann, also weder über- noch unterfordert wird. Dies verschafft dem Kind die Gewissheit, dass es die Zukunft mit Zuversicht in Angriff nehmen kann, dass es die eigenen Stärken zu nutzen und mit den Schwächen umzugehen weiß. Eine kindgerechte Schule entlässt junge Erwachsene in die Gesellschaft, die emotional gefestigt, sozial kompetent und fähig sind, ihr Leben selbstständig zu meistern. Lernstoff, der nur den Fachlehrer, aber nicht die Kinder interessiert und der vor allem nichts zu ihrer langfristigen Entwicklung beiträgt, gehört nicht mehr in den Unterricht.

Wider den Förderwahn

Wenn uns täglich eingetrichtert wird, dass Bildung unser einziger Rohstoff und die Schule der zentrale Weichensteller für ein erfolgreiches Leben sind, dann braucht sich niemand mehr über den Förderwahn zu wundern, dem inzwischen bereits Kleinkinder zum Opfer fallen. Dabei gehen deren Eltern von der irrigen Vorstellung aus, ihr Kind werde umso klüger, je früher und intensiver man mit ihm übt – ob das Einmaleins, Chinesisch oder das Geigenspiel. Doch ein Kind lässt sich nicht beliebig wie ein Gefäß mit Inhalten abfüllen. Man kann keine Gymnasiasten züchten. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Was die Kinder brauchen, sind umfassende Erfahrungsmöglichkeiten, in den ersten Lebensjahren wie in der Schule. Das Lernen besorgen sie dann selber.

Skepsis gegenüber dem grassierenden Förderwahn bedeutet aber nicht, die Eltern könnten keinen Einfluss auf den (schulischen) Werdegang ihrer Kinder nehmen. Ihre vornehmste Aufgabe ist und bleibt es, dem Kind jenes Grundgefühl der Geborgenheit zu vermitteln, das den Humus auch für einen erfolgreichen Schulweg bildet. Und es obliegt den Eltern, dem Kind möglichst vielfältige Entwicklungserfahrungen anzubieten. Doch anbieten heißt eben nicht aufdrängen.

Remo Largo ist Professor für Kinderheilkunde und Autor der Bücher »Babyjahre« und »Kinderjahre«. Gemeinsam mit Martin Beglinger vom »Tagesanzeiger Magazin« hat er kürzlich »Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen« veröffentlicht.


Foto: ap