Wurst-Case-Szenario

Die Bratwurst gehört zum Fußball wie Bier im Becher und gepflegtes Schimpfen. Über ein Nahrungsmittel, das nach schlimmen Niederlagen erstaunlich viel Trost spenden kann (wenn man nicht gerade wegen Corona zu Hause statt im Fanblock sitzt).

Den Senf nun von der Kleidung fernzuhalten, ist eine zu selten gewürdigte Kunst.

gewürdigte Kunst.

Die beste Bratwurst meines Lebens aß ich 1999 im Lohrheidestadion in Wattenscheid. Serviert wurde sie mir an einer Imbissbude hinter der Gästekurve, mit einer Holzzange vom Kohlenrost geholt, garniert mit einer halbierten Toastscheibe und Senf aus dem Plastikeimer. Der Mann im weißen Kittel hatte sie mir genau im richtigen Moment über die Theke gereicht, sie war kräftig durchgebraten und schon leicht aufgeplatzt. Ich biss hinein und war mir sicher: Das wird ein perfekter Fußballabend.

Bis dahin war es nämlich eine mustergültige Auswärtsfahrt gewesen: Ich hatte zwei Stunden im überfüllten Regionalexpress hinter mir, war mit zahlreichen anderen Anhängern am Bochumer Bahnhof in einen Linienbus getrieben worden und hatte auf dem Weg zum Stadion mehrere seriöse Angebote für eine Schlägerei ablehnen müssen. Am Eingang war ich von grimmigen Ordnern nach mitgebrachten Marschflugkörpern abgetastet worden, und nun begann es auch noch leicht zu nieseln.

Genau so sollte es sein. Nichts gab uns mehr das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, als eine elend weite Anreise, schlecht gelaunte Polizisten, der Marsch durch Feindesland bis zum Stadion, penetranter Nieselregen und Minusgrade. Wir waren schließlich nicht Fußballfans geworden, um uns bei Heimspielen den dicken Hintern auf einer Plastikschale plattzusitzen. Wir wollten wilde Auswärtsfahrten, in fremden Städten den dicken Max markieren und fest daran glauben, dass wir die besten Fans der Welt sind – auch wenn wir nur Anhänger des Zweitligisten Arminia Bielefeld waren.

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Jedes zweite Wochenende waren wir unterwegs in der Republik. Und wie viele andere Fans pflegten wir hingebungsvoll unsere Rituale. Wir sangen im Auto lauthals die Vereinshymne mit und hielten auf der A2 bei voller Fahrt Bierflaschen aus dem Fenster, um mit vorbeifahrenden Fans anzustoßen. Wir hängten die Fanklubfahne an den Zaun – und an jedem Spieltag standen wir eine halbe Stunde vor dem Anpfiff an der Bude und bestellten Bratwürstchen. Wir liebten diesen Moment. In ein paar Minuten würden wir im Block stehen, brüllen und singen und den gegnerischen Mittelstürmer als Schwalbenkönig beschimpfen. Nun aber kehrte andächtige Stille ein, weil wir damit beschäftigt waren, mit dem perforierten Streifen der Pappschale die Wurst zu greifen, ohne dass der ganze Senf auf die Hose tropfte. Keiner von uns hätte in diesem Augenblick zu Hause auf dem Sofa hocken wollen.

Wir fühlten uns wie Soldaten vor der Schlacht, wie Astronauten vor dem Start der Rakete – und nicht wie Fans vor dem Anpfiff einer belanglosen Zweitligapartie

Dabei war schon damals die Bratwurst kulinarisch eher unspektakulär. Hundert Prozent Schweinefleisch im Naturdarm, zwanzig Minuten gebrüht, aufgehängt und schließlich eiskalt abgeduscht. Fertig war die Wurst, ob sie nun vom Bochumer Metzger Dönninghaus oder vom Bielefelder Fleischer Kleinemas stammte. Aber der Verzehr gehörte nun mal genauso zum Fußball dazu wie der Becher Bier, die kehligen Gesänge, der Zigarettenrauch und die Pilsdeckchen, die im Fanblock als Konfetti durch die Luft flogen.

Und wir schonten uns dabei nicht. Denn die Qualität der Würstchen schwankte stark. Im Kölner Südstadion wurde die Wurst früher stundenlang in brackigem Altöl geschwenkt. In Karlsruhe gab es Bockwurst, die uns an unappetitliche Abbildungen aus dem Pschyrembel erinnerte. Trotzdem war uns das Ritual heilig. Wir fühlten uns wie Soldaten vor der Schlacht, wie Astronauten vor dem Start der Rakete – und nicht wie Fans vor dem Anpfiff einer belanglosen Zweitligapartie.

Heute sind die glorreichen Zeiten der Stadionwurst lange vorbei, zumindest im Profifußball. In den großen Arenen haben seelenlose Cateringfirmen die alteingesessenen Metzger verdrängt. Wo früher vierschrötige Schlachter aus der Region mit ihren Imbisswagen heranfuhren, werden heute Billigwürstchen auf lauwarmen Fettplatten erhitzt und in steinharten Brötchen serviert. Als Bierbegleitung gibt es eine alkoholfreie Brühe, die mit Zapfpistolen in riesige Becher geschossen wird.

Natürlich war früher nicht alles besser. Längst gibt es in vielen Stadien vegane Würstchen, Zwiebelkuchen und Gulaschsuppe. Trotzdem bin ich froh, wenn ich bei unterklassigen Spielen einen Imbisswagen mit Holzkohlegrill am Spielfeldrand erblicke. Dann wird mir eine Bratwurst auf einer Pappschale serviert, und es geht mir wie dem mürrischen Kritiker Anton Ego in Ratatouille. Ein Biss in die Bratwurst – und ich bin plötzlich wieder 19 Jahre alt und mit den Kumpels unterwegs zum Fußball. Nach Dortmund ins Westfalenstadion, auf den Betzenberg nach Kaiserslautern oder eben nach Wattenscheid. Und dann sehe ich mich wieder im Nieselregen stehen, nervös und voller Vorfreude, mit einem Arminia-Schal um den Hals und einer Bratwurst in der Hand.