Der Untergang

Nächsten Sonntag werden die Oscars verliehen und Hollywood feiert sich wieder selbst. Wofür eigentlich? Für langweilige Drehbücher, sinnlose Special-Effects oder »Shrek«, Teil 23?

Vielleicht ist es ja so, dass jede Generation über die Filme jammert, die sie sich anschauen muss. Schon 1980 überschrieb die legendäre Kritikerin des New Yorker, Pauline Kael, einen Essay mit dem Titel »Warum sind die Filme bloß so schlecht?« und gab darin dem Publikum die Schuld: Es sei nicht mehr bereit, sich überraschen zu lassen. 1980, zur Erinnerung, war das Jahr, in dem unter anderem Wie ein wilder Stier, Alien, Shining, Ein Mann für gewisse Stunden, Gloria, Manhattan und Kramer gegen Kramer liefen. Was Kael – wenn sie denn noch lebte – über Hollywoods Jahrgang 2004 schreiben würde, möchten wir lieber nicht wissen. Wir sind ohnehin deprimiert genug.

Die Hits hießen Spiderman 2, Shrek 2, Harry Potter 3, Scary Movie 3. Beliebt waren auch die Fortsetzungen von Ocean’s Eleven, Bridget Jones, Meine Braut, ihr Vater und ich sowie Die Bourne Identität; Brad Pitt trug Sandalen in Troja und Day After Tomorrow brachte uns wieder in die Eiszeit: zehn Filme, 1,3 Milliarden Dollar Herstellungskosten, null Überraschungen.

Die diesjährigen Oscar-Nominierungen für den besten Film könnten als die schwächsten aller Zeiten in die Geschichte eingehen: drei auf Tiefgang gequälte Biografien (Ray, Aviator, Finding Neverland), eine nette Kumpelkomödie (Sideways) und ein Box-Drama voller Klischees (Million Dollar Baby). Dabei hätte es einiges zu erzählen gegeben über die USA und die Welt im Jahre 2004. Doch Hollywood hat geschwiegen.

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Wundert es da, dass sich das Publikum angeödet abwendet? Die Zahl der Besucher amerikanischer Filme in Deutschland ging von 130 Millionen im Jahr 2001 auf 95 Millionen 2004 zurück. In Amerika verzeichneten die großen Studios trotz irrwitziger Werbeetats das schwächste Jahr seit langem: sechs Prozent weniger Einnahmen. Filme wie Troja spielten zu wenig ein, um ihre immensen Kosten zu decken. Natürlich können Filme mal misslingen – vom Drehbuch bis zum Schnitt sind so viele Probleme zu lösen, dass später niemand mehr feststellen kann, woran es lag. Wenn allerdings eine ganze Stadt ein Jahr lang 300 Filme produziert, von denen kein einziger großartig ist, gibt es nur eine Erklärung: Das System ist krank.

Wer in dieser Zeit, im Januar, Februar 2005, durch Los Angeles fährt, wundert sich über die Plakate für Filme, die lange nicht mehr laufen. Im Parkhaus des Beverly-Hills-Einkaufszentrums prangt zum Beispiel: »Bitte beziehen Sie in Ihre Überlegungen ein: Eternal Sunshine of the Spotless Mind«. Und am Sunset Boulevard: »Nicht vergessen: Kinsey anschauen«. In den Zeitungen: »Mit freundlicher Empfehlung: Collateral«. Diese Kampagnen richten sich an die 5806 Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Science, die Oscar-Jury. Wo diese Herrschaften einkaufen, zum Bowling gehen oder zur Arbeit fahren, wollen die Filmstudios sie beeinflussen. 300 Millionen Dollar kosten die Oscar-Kampagnen, jeweils 40 Millionen davon nehmen allein die beiden Branchenblätter Variety und Hollywood Reporter ein. Charles C. Koones, Herausgeber von Variety, sagt: »Dezember und Januar sind für uns gigantische Monate. Dieses Jahr war besser denn je.« Für die Studios rechnet sich der Aufwand. Die Auszeichnung mit einem Oscar ist nach einer Studie des Produzentenverbands über die Jahrzehnte gerechnet 100 Millionen Dollar wert.

Doch die Oscar-Saison lief nicht ohne Probleme ab. Weil die Academy Piraterie fürchtet, dürfen ihre Mitglieder die Filme zu Hause nur noch auf speziellen Abspielgeräten anschauen, in denen sich die DVD nach dem Abspielen selbst zerstört. Leider steckte der Container mit 6000 dieser Apparate bis Dezember irgendwo in Asien fest. Der Fernsehsender ABC, Teil des Disney-Konzerns und für die Übertragung der Oscar-Show zuständig, wunderte sich letztes Jahr, warum die Einschaltquote um 40 Prozent sank. Eine anschließende Marktforschung förderte zutage, dass 95 Prozent der Zuschauer nur einen oder keinen der nominierten Filme gesehen hatten. Ohne Herr der Ringe 3 wäre die Umfrage noch trostloser ausgefallen. Die Mehrheit der Zuschauer gab an, nur einzuschalten, um hässliche Kleider zu sehen. Die Erkenntnis ist ernüchternd: Die Filme, für die sich die Branche bei den Oscars feiert, interessieren im Volk niemanden. Der Sender reagierte und wirbt jetzt mit dem Slogan: »Wir liefern zu jeder Modesünde den fiesesten Kommentar.«

An der Einfahrt zu den Disney Studios in der Buena Vista Street in Burbank, Kalifornien, stehen zwei Pförtner und winken ab. Über ihren Chef dürfen sie nicht sprechen, man würde sie feuern, sagen sie. Immer morgens um acht heben die beiden die Schranke für Michael Eisners Limousine. Das gepanzerte Auto verschwindet unterm Hauptgebäude, einem rosa Klotz, dessen Fassade sieben Säulen in Form der sieben Zwerge verzieren. In der obersten Etage arbeitet Michael Eisner, 62. Was er da so treibt? Die Pförtner zucken mit den Achseln. »Fragen wir uns auch.«

Michael Eisner war das Thema des Jahres in Hollywood: wie er bei Disney in zehn Jahren reihenweise Flops ablieferte und trotzdem eine Milliarde Dollar verdiente! Eisner verkörpert das Klischee des visionenfreien Studiobosses, der nur den Aktienkurs steigern will. Im April stimmten allerdings fast die Hälfte der Aktionäre und Mitglieder des Disney-Klans dafür, Eisner zu entlassen. Der gab bekannt, auf keinen Fall zurückzutreten. Dann meldete sich Michael Ovitz zu Wort, den Eisner 1995 engagiert hatte, um ihn als Nachfolger aufzubauen. Ovitz, damals Chef der Creative Artists Agency, galt als mächtigster Mann Hollywoods. »Außer dir hat mich niemand im Krankenhaus besucht. Das werde ich dir nie vergessen, mein Freund«, schrieb Eisner damals an Ovitz. Als Eisner den Freund jedoch nach 14 Monaten wegen totaler Ahnungslosigkeit entließ, war Ovitz’ Karriere vorbei. Nun will Ovitz 140 Millionen Dollar Abfindung kassieren. Im Januar sagte Eisner vor Gericht aus, er habe leider zu spät festgestellt, dass Ovitz geisteskrank sei. CNN übertrug live.

An der University of Southern California erforscht Professor Martin Kaplan die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie. Er sagt: »Diese Geschichte ist typisch. Die Studiobosse benehmen sich wie zwölfjährige Gangster: Wenn die Hormone rasen, rammen sie sich gegenseitig Messer in den Rücken. Wegen der unglaublichen Summen, die sie verdienen, leidet ihr Realitätssinn und sie fahren bei einer Klimaschutzgala im Hummer-Jeep vor.«

Eisners Bilanz für 2004 könnte erschütternder nicht sein. Die Trickfilmabteilung wurde von 1800 auf 600 Mitarbeiter eingedampft. Die Prestigeprojekte The Alamo, In 80 Tagen um die Welt, König Arthur, Hidalgo spielten gerade mal ein Viertel ihrer 660 Millionen Dollar hohen Kosten ein. Disneys einziger Hitfilm Die Unglaublichen stammt aus der Produktion von Pixar, dem Partner für Animationsfilme. Doch Pixar wird den Vertrag nicht verlängern – wegen Eisner.

Die Tochterfirma Miramax wollte Michael Moores Anti-Bush-Propaganda Fahrenheit 9/11 in die Kinos bringen, doch Eisner untersagte das, und Miramax entgingen so 220 Millionen Dollar. Eisners Motiv: Er will Disneyworld in Florida ausbauen und hofft auf Subventionen des Staates. Gouverneur Jeb Bush hätte die Finanzhilfe gestrichen, falls eine von Disneys Firmen seinen Bruder, den Präsidenten, kritisiert hätte.

Im Herbst entließ Miramax ein Drittel der Belegschaft und streitet seitdem mit Eisner um eine Trennung. Laut New York Times wird Disney dabei erneut viele Millionen Dollar los. Im Konzern war Miramax für die Produktion von Qualitätsfilmen zuständig. Auch dieses Jahr ist das Studio mit 20 Nominierungen bei den Oscars Spitze – und gibt eine der begehrtesten Partys. Wie immer wird Michael Eisner am Sonntag mitfeiern.

Während des Golden-Globe-Wochenendes Mitte Januar ist die Agentin Beth Swofford, 36, ausgebucht. Frühstück, Mittagessen, Dinner sind reserviert für ihre Klienten. Am Freitag: Lucy Liu, Hugh Grant, Scott Rudin. »Alle sind in der Stadt, alle wollen unterhalten werden«, sagt sie. Wir treffen uns auf einen Blitzkaffee im Branchentreff »Urth Café«.Swofford arbeitet für die Creative Artists Agency, die größte der vier Agenturen, die den Markt der Künstlerberatung unter sich aufteilen. Das Magazin Premiere nannte Swofford »eine der mächtigsten Personen Hollywoods«. Drahtzieher wie sie sind es, die mit ihren Forderungen selbst noch so gerissene Bosse ins Schwitzen bringen. Swoffords Credo lautet: »Ich möchte helfen, tolle Filme zu machen.« Ihre Schauspieler verdienen bis zu 25 Millionen Dollar pro Film, ihre Regisseure sechs. Swofford erhält zehn Prozent Provision. Doch für ihr Geld muss sie immer härter arbeiten, klagt sie: »Seit alle Studios zu Konzernen gehören, haben die Kostenkontrolleure das Sagen.« Hungern muss sie trotzdem nicht: Sie wohnt in einer Villa in den Hollywood Hills und in nur drei Jahren kaufte sie sich eine der größten Sammlungen moderner Kunst in Kalifornien zusammen. Von einer kreativen Krise hat Swofford noch nie gehört. »Es war schon immer schwierig, Geld aufzutreiben für Filme, die dir hinterher keine Kopfschmerzen verursachen. Man sollte die Vergangenheit nicht romantisieren.« Die Agentin findet sogar, dass es einfacher geworden sei, tolle Filme zu produzieren, denn viele Schauspieler und Regisseure wären bereit, fast umsonst zu arbeiten, wenn sie an oscarfähiges Material kämen. So wie bei The Hours: Da gelang es ihr, den Regisseur Stephen Daldry, den Produzenten Scott Rudin und die Darstellerinnen Meryl Streep und Nicole Kidman zusammenzubringen. Der Film blieb in Erinnerung wegen der riesigen Nasenattrappe in Kidmans Gesicht. Swofford findet, The Hours sei ein fantastischer Film, ein Klassiker.

Als Hollywood seine Filme noch in Amerika drehte, hatte der Kameramann Brent Swift kaum ein freies Wochenende. Diese Tage sind vorbei. In der Liste der laufenden Produktionen in Variety vom 21. Januar sind 105 Filme aufgezählt. 71 davon werden ganz oder teilweise im Ausland produziert – Batman 5 in Vancouver, King Kong in Neuseeland, Mission Impossible 3 in Prag, Basic Instinct 2 – Risk Addiction in London. Warner Brothers feuerte zwei Regisseure, weil die Superman unbedingt in New York drehen wollten. Erst Bryan Singer (X-Men 1, 2 und 3) war bereit, in Australien zu arbeiten, was die Kosten von 220 auf 170 Millionen Dollar senkt. Swift sagt: »Filme sind wie Jeans. Du haust sie irgendwo auf der Welt so billig wie möglich zusammen.« Er vermutet, dass seit 1995 ein Viertel der einst 500000 Jobs in der Filmindustrie verloren ging. In Kanada ist ein Films nur halb so teuer wie in Amerika, in Mexiko sogar noch billiger.

Am Wilshire Boulevard befindet sich die Zentrale der Schauspielergewerkschaft Screen Actors Guild (SAG). 120000 Mitglieder zählt die SAG, ihre Präsidentin Melissa Gilbert sagt: »Es wird Zeit, dass jemand die Vernichtung unserer Jobs stoppt. Zehntausende Kleindarsteller können nicht nach Toronto oder Sydney fahren, um zu arbeiten. Aber hier gibt es für sie jedes Jahr ungefähr zwei Prozent weniger Jobs.«

Nirgends sind die Regeln für die Produzenten so streng wie in den USA. Die SAG hat gerade mit den Produzentenverbänden einen Tarifvertrag geschlossen, der unter anderem Geldstrafen für den Produzenten vorsieht, falls er den Dreh in die Mittagspause hinein überzieht: Pingeligkeiten wie diese treiben die Produzenten ins Ausland.

Kameramann Swift ist Mitglied im Film and Television Action Committee, das die Gewerkschaften für Kameramänner, Schauspieler, Regisseure, Autoren und Ausstatter im Kampf gegen das »Outsourcing« vereinigen will. Aber der Gegner ist übermächtig. Eigentlich sollte die Motion Picture Association of America (MPAA), in Washington für die Lobbyarbeit zuständig, die Interessen aller Mitarbeiter der Industrie vertreten. Die MPAA wird jedoch von den sieben großen Medienkonglomeraten beherrscht und deren Gewinne wachsen mit jedem Film, der billig im Ausland gedreht wird. Außerdem sind die Konzerne mit der Regierung Bush befreundet. Time Warner gehörte zu den großzügigsten Spendern für die Inaugurationsparty. Bonnie Richardson, Vizepräsidentin der MPAA: »Wir werden keinen Handelskrieg anfangen, nur weil uns zehn Milliarden Dollar durch Auslandsproduktionen verloren gehen. Schließlich nehmen unsere Unternehmen 40 Milliarden durch den Export der fertigen Filme ein.«

Während der Filmfestspiele in Cannes demonstrieren einige hundert Aktivisten vor dem Kino, in dem gerade Fahrenheit 9/11 läuft, gegen Bush, während gleichzeitig ein paar Mädchen riesige grüne Ohren verteilen als Werbung für Shrek 2, den anderen amerikanischen Film im Wettbewerb: Die Demonstranten setzen sich die Shrek-Ohren auf und rufen: »Nieder mit Bush!« Eine niedliche Szene, aber die New York Times-Autorin Lynn Hirschberg, die zusieht, schämt sich: »Amerika wird repräsentiert von kriegslüsternen, unterbelichteten Filmhelden, die in mittelalterlichen Anschauungen oder Science-Fiction-Phantasien feststecken. So nett der dicke Shrek auch ist – er steht für die Verflachung unserer Filme.« Und muss es auch: Weil die Studios zwei Drittel ihres Umsatzes außerhalb Amerikas machen, passen sie ihre Filme an die Geschmäcker aller Kulturen an. Heraus kommt ödes Mittelmaß. Sherry Lansing, die Vorstandsvorsitzende von Paramount, erinnert sich: »Als ich Mitte der Achtziger Eine verhängnisvolle Affäre produzierte, haben wir keine Sekunde darüber nachgedacht, wie der Rest der Welt den Film findet. Heute planen wir genau, welche Charaktere das lateinamerikanische, europäische, japanische Publikum ansprechen.«

Vielleicht ist es wirklich so, dass jede Generation mit den Filmen ihrer Zeit unzufrieden ist. Eins hat sich aber tatsächlich geändert. Charlie Kaufman, Autor des Drehbuchs für Eternal Sunshine of the Spotless Mind, einen der lohnenden Filme des letzten Jahres, formuliert es so: »Filme aus Hollywood waren mal ein Werbeprogramm für Amerika: Sie zeigten die Coolness und Fortschrittlichkeit unseres Landes. Das Problem heute ist, dass niemand mehr unser Land als cool und fortschrittlich empfindet.«