Verdammt zum ewigen Leben

Pünktlich zum 50. Todestag lassen sich Millionen mit Marilyn Monroe verdienen. Ihr letzter Wunsch, bitte nie lächerlich gemacht zu werden, kann dabei nicht immer berücksichtigt werden.

Man könnte denken, Lady Gaga habe alles erreicht. Sie trat vor Queen Elizabeth auf, trug ein Kleid aus rohem Fleisch und wurde vom Rolling Stone zur »Queen of Pop« erklärt. Doch tief in ihrem Innern scheint ein Wunsch zu schlummern, den all ihre Erfolge bisher nicht erfüllen konnten: sich für einen Moment wie Marilyn Monroe zu fühlen. Mitte Oktober war es dann endlich so weit, und die Popwelt staunte, als der größte Star der letzten Jahre in aller Öffentlichkeit seinen Marilyn-Moment zelebrierte: Auf dem Höhepunkt von Bill Clintons Geburtstagskonzert schmachtete Lady Gaga den Expräsidenten ähnlich lasziv an wie Monroe einst John F. Kennedy. Hinterher scherzte Clinton: »Ich dachte, ich bekomme einen Herzinfarkt.«

Die Szene war einerseits bemerkenswert: Man hätte nicht erwartet, dass einen ultramodernen Star wie Lady Gaga ein platinblondes Busenwunder aus der Ära des Schwarz-Weiß-Films reizen kann. Andererseits war es auch wieder nicht bemerkenswert, sind wir doch gerade mehr als jemals von Monroe-Bildern umgeben; ihr Schmollmund und ihr kurvenreicher Körper tauchen so häufig in den Medien auf, dass man glauben könnte, sie hätte ihren ersten Film nicht 1947, sondern 2011 gedreht.

Tatsächlich aber ist sie nun fast 50 Jahre tot. Am 5. August 1962 fand man sie auf dem Bett in ihrer Villa in Los Angeles, nackt, gestorben wohl an einer Überdosis Schlaftabletten. Und längst hat anlässlich dieses runden Todestages eine schon jetzt atemberaubende Marilyn-Hysterie eingesetzt: Etliche Verlage stehen mit neuen Biografien und Bildbänden in den Startlöchern, Dolce & Gabbana bringen im Frühjahr eine MM-Kollektion auf den Markt, in China werden bereits containerweise Monroe-Souvenirs verschifft. Auf der Facebook-Seite des toten Stars registrieren sich pro Tag bis zu 3000 neue Fans, und auch zahlreiche Hollywood-Blondinen versuchen, ein paar Krümel vom Monroe-Mythos abzubekommen. Am konsequentesten war Lindsay Lohan. Im aktuellen US-Playboy sagt das Starlet wenig, zeigt aber viel: Lohan stellt einige berühmte Nacktfotos nach, die Marilyn Monroe einst gemacht hat, »um die Miete bezahlen zu können«.

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Mehr als 300 Biografien spüren den Wendungen ihres Lebens nach, dazu kommen etliche Doktorarbeiten über sie, Dutzende Filme, Popsongs, Gemälde, Theaterstücke. Doch niemandem ist es bisher gelungen, das Rätsel Marilyn zu lösen. Könnte es daran liegen, dass nicht mal die Monroe selbst genau sagen konnte, wer sie war? Als Kind einer schizophrenen Mutter wurde sie zwischen Waisenhäusern und Pflegefamilien hin- und hergeschubst, später bekam sie einen neuen Namen und eine neue Biografie verpasst, maßgeschneidert von den Illusionsprofis Hollywoods. Sie war zugleich die megablonde Venusfalle, das unschuldige Mädchen oder das schutzbedürftige Psychowrack. Ihre Biografie und Karriere hatten so viele verschiedene, teils widersprüchliche Facetten, dass es heute leicht ist, sich eine Marilyn zurechtzubasteln, maßgeschneidert für den eigenen Zweck.

Was Jamie Salter mit Marilyn Monroe anfangen will, ist erfrischend klar: Geld verdienen. Seine Firma Authentic Brands Group hat vor einem Jahr die Rechte an Marilyn Monroe gekauft. »Mir gehören ihre Augen und die Lippen, ihr Name, ihr Abbild und ihre Unterschrift«, prahlt Salter, ein untersetzter kanadischer Geschäftsmann mit Bauchansatz. »Ich bin mehr als ihr Manager. Ich besitze sie!« Jamie Salter verrät nicht, wie viel ihm Marilyn wert war; in der Branche ist aber von 20 bis 30 Millionen Dollar die Rede. Anfang Dezember legte er noch mal 352 000 Dollar hin, als das Auktionshaus Julien’s Fotos von Marilyns allererstem Kameralächeln versteigerte. Dafür bekam Salter die Negative und Vermarktungsrechte an den Fotos und das Original ihres ersten Modelvertrags.

Salter spekuliert darauf, damit groß Kasse zu machen. Und es könnte klappen: Tote Stars haben im vergangenen Jahr allein in Amerika rund zweieinhalb Milliarden Dollar Umsatz gemacht. Rund 100 Millionen Dollar davon gingen an Marilyn – viel zu wenig, findet Salter, er will das Geschäft mit Marilyn-Produkten verfünffachen. Die Schnapsgläser mit Monroe-Aufdruck, die es in Ramschläden gibt, hält er allerdings für »zu kitschig«. Er möchte vielmehr Marilyn als hochpreisige Glamour-Ikone wieder auferstehen lassen, eine Reihe von »Marilyn-Cafés« eröffnen, eine gehobene Hollywood-Variante von Ketten wie Starbucks. Unter dem Siegel größter Verschwiegenheit flüstert er einem auch den Namen eines Kosmetikkonzerns ins Ohr, der dieses Jahr eine Linie mit Marilyn-Produkten herausbringen wird, aber hier nicht genannt werden darf – sonst drohen 20 Millionen Dollar Strafe.

Als Manager und Besitzer von Marilyn Monroe ist Salter selbstverständlich auch an den zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen beteiligt, die sich gerade mit dem toten Star beschäftigen. So wird im amerikanischen Fernsehen im Februar Steven Spielbergs TV-Serie Smash anlaufen, eine Sitcom über Starlets, die sich für ein Musical in Marilyn Monroe verwandeln. Naomi Watts spielt die Hauptrolle im neuen Biopic Blonde, dessen Thema die Anfangsjahre von Marilyns Karriere sind. Bereits Ende November kam in den USA der Film Meine Woche mit Marilyn in die Kinos, erzählt aus der Perspektive eines schüchternen Jünglings namens Colin Clark, den Marilyn angeblich in ihr Bett lockte, als es ihr dritter Ehemann, der Schriftsteller Arthur Miller, nicht mehr mit ihr aushielt.

Zum Filmstart in den USA hatte die Hauptdarstellerin Michelle Williams ihren eigenen Monroe-Moment: Mit knallroten Lippen und offenherzigem Dekolleté posierte sie auf dem Cover der US-Vogue. Im Interview zeigte sie sich dann überraschend hellsichtig: »Jeder hat seine eigene Idee davon, wer Marilyn war und was sie ihm bedeutet.« Michelle Williams sieht in Marilyn weder die Sexbombe, wie Lindsay Lohan, noch die machtbewusste Aufsteigerin, sondern das vom Erfolg überforderte Opfer eines männerdominierten Geschäfts. »Ich habe noch nie so viel um einen Menschen geweint, den ich gar nicht kannte«, sagt Michelle Williams.

Ihr Auftritt in Meine Woche mit Marilyn ist so überzeugend, dass sie bereits als Oscar-Kandidatin gehandelt wird. Doch Jamie Salter, Marilyns neuer Besitzer, würde gern noch einen Schritt weitergehen. Er träumt davon, sie digital wiederzubeleben und ihre künstlich animierte Computerversion in neuen Filmen auftreten zu lassen. Problem: Ein Monroe-Avatar würde, laut Salter, pro Filmminute derzeit um die 300 000 Dollar kosten – »ein abendfüllender Spielfilm wäre also teuer«. Andererseits wäre der Avatar in vieler Hinsicht pflegeleichter, als es die echte Monroe war. »Unsere Marilyn kommt niemals zu spät«, brüstet sich Salter in Anspielung auf Marilyn Monroes berüchtigte Unpünktlichkeit.

Was für ein gruseliger Gedanke! Eine digital gezähmte Sexbombe, die niemals altert und alles mit sich machen lässt! Denkt man genauer darüber nach, entdeckt man in Salters Ansinnen jedoch eine tiefere Wahrheit. Ein Avatar ist schließlich eine leere Hülle, die jeder für seine Zwecke verwenden kann. Ist Marilyn Monroe nicht genau das bereits geworden, ganz ohne digitale Tricks? Die Vorgänge weit vor ihrem 50. Todestag zeigen, wie sehr sich ihr Mythos verselbstständigt hat. Sie lebt inzwischen in erster Linie als Zitat. Damit hat sie die ultimative Form kultureller Unsterblichkeit erreicht und wird ewig jung, sexy und begehrenswert bleiben. Ob sie geahnt hat, was ihr blüht? »Bitte«, flehte sie am Ende ihres letzten Interviews, »machen Sie keine Witzfigur aus mir.«

Model: Marguerite Gisele; Styling: Sarah Zapatka

Fotos: Fabian Zapatka