Die Packungsbeilage

Man nimmt sie mit, weil sie umsonst ist, aber 21 Millionen lesen sie auch: Hinter der Apotheken Umschau steckt das geniale Geschäftsmodell eines 92-jährigen Verlegers.

Die Apotheken Umschau ist für die Kunden kostenlos, nicht aber für den Apotheker.

Die Zeitschrift wirbt seit zwölf Jahren auf einem der prominentesten Plätze des deutschen Fernsehens, der Minute vor der Tagesschau. Sie verkauft jeden Monat fast zehn Millionen Exemplare, mehr als Spiegel, Stern und Focus zusammen. Sie wird von über 21 Millionen Menschen im Land gelesen. Und das, obwohl kaum ein Leser sich merken kann, wie das Blatt überhaupt heißt: Apotheken Umschau - oder doch Rundschau?

»Der Name ist fremd, in der Tat«, sagt Rolf Becker. »Würde ich heute nicht mehr wählen.« Rolf Becker ist eine Legende unter den deutschen Verlegern: Die Skulptur aus Stahl, die in Berlin vor dem Bundeskanzleramt steht, stiftete Becker. Meister der klassischen Musik wie der Geiger Gidon Kremer treten in seinem Privatsalon auf. Er war einer der Ersten, die den Bau des Holocaust-Mahnmals finanzieren halfen. Die Apotheken Umschau gründete Becker 1956. Danach lebte die Zeitschrift über 40 Jahre gut von einer Gesetzeslücke, unauffällig und unbeachtet. In der Welt der Medien wurde das Blättchen aus der Apotheke als »Rentner-Bravo« belächelt.

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Doch um die Jahrtausendwende baute Rolf Becker die Apotheken Umschau binnen weniger Jahre zu einer Macht im deutschen Zeitschriftenmarkt auf: eine Auflage wie das Telefonbuch, Anzeigenpreise eines Wirtschaftsmagazins, Seitenumfang einer Modezeitschrift – und Schlagzeilen wie aus einem Albtraum: Herzinfarkt, Brustkrebs, Demenz. Was ist das Geheimnis dieses sonderbaren Blatts?

Auf der Suche nach einer Antwort landet man rasch wieder bei Rolf Becker. Er ist heute 92 und trifft in seinem Verlag noch immer jede Entscheidung selbst, die er für wichtig erachtet. Die Frage, ob ein Journalist seinen Verlag und seine Redaktion besuchen darf, gehört dazu. Das Telefon klingelt, und seine Stimme schnarrt: »Sie wissen: Ich habe mich zurückgezogen.« Das ist der Beweis, dass er es wirklich ist. Wie oft hat er schon angekündigt, sich zurückzuziehen! Als er das erste Mal beschloss aufzuhören, besiegelte er seinen Willen, indem er seinem Dorf eine Chronik in Leinen binden ließ und als Abschiedsgeschenk vermachte. Das war 1988.

Baierbrunn ist ein Dorf im Süden Münchens, am Hochufer der Isar. Es gibt eine Kirchenstraße, die an der Kirche endet, eine Bahnhofstraße, die am Bahnhof beginnt, und eine Burgstraße. Dort, wo die Burg einmal stand, steht jetzt der Verlag.

Die Gebäude wirken zwischen Maibaum und Alpenkamm wie blanke Würfel: viel Glas, viel Weiß. An den Gängen moderne Kunst, beim Büro des Geschäftsführers hängt ein Roy Lichtenstein, neben dem Damenklo Jonathan Meese. Die Türen der Toiletten gleiten auf wie im Film die Luftschleusen zur Kommandobrücke eines Raumschiffs.

Die beiden Chefredakteure der AU, wie das Blatt in der Redaktion abgekürzt wird, sitzen im zweiten Stock; ihre Büros sind durch eine Zwischentür verbunden. In einem Raum hängt die Wand voller Fotos, Stierkämpfer, Extremkletterer, Rugbyspieler. Das ist das Büro von Peter Kanzler, der eine Krawatte trägt. Im anderen Raum ist die Wand weiß. Hier sitzt Hans Haltmeier, der einen Ohrring trägt.

Die 13 Redakteure der Apotheken Umschau stehen nicht gern in der Öffentlichkeit, manche wollen auf keinen Fall fotografiert werden. Oft genug wurden sie von anderen Journalisten mit Spott überzogen, nach dem immer gleichen Muster: Im Frühling schreiben sie über Schnupfen. Im Herbst auch. Dazwischen über Sommergrippe. Ansonsten über Blasenschwäche, Rückenschmerzen und Darmprobleme. Alle drei, vier Monate empfehlen sie, die Hausapotheke aufzufrischen. Die ständige Sorge um die Wehwehchen der Leser brachte dem Blatt unter anderem den Namen »Stützstrumpf der Nation« ein.

Die Chefredakteure Kanzler und Haltmeier finden das nicht besonders lustig, sie nehmen ihre Arbeit sehr ernst: Kanzler hat einen Schrank in seinem Büro stehen, der nur mit Leserbriefen gefüllt ist - Menschen, die von ihren Krankheiten erzählen und dem Leid in ihrem Leben. Spott sei einfach. So zu schreiben, dass diese Menschen sich nicht in falschen Hoffnungen wiegen und doch verstanden fühlen, sei schwer. Die Redaktion ist der erste Grund für den Erfolg der Apotheken Umschau, sagt deshalb der Verleger Rolf Becker.

Doch Branchenkenner behaupten, sein Geschäftsmodell spiele eine weit größere Rolle. Für die Leser ist die Zeitschrift zwar kostenlos und deshalb sehr beliebt. Das gilt aber nicht für die Apotheker: Ein Apotheker, der 50 Exemplare der Apotheken Umschau abonniert hat, die Mindestabnahme, zahlt etwas mehr als 52 Cent pro Stück. Ein Apotheker, der 1000 Stück bezieht, jeweils knapp über 35 Cent. Immerhin kann er die Apotheken Umschau mit Werbeaufdrucken seines Betriebs versehen lassen, einen Rätselteil oder ein Fernsehprogramm dazu buchen und weitere Ableger bestellen, medizini für Kinder, Baby und Familie für Eltern oder einen Diabetes Ratgeber - alle diese Zugaben kosten allerdings extra.

Der Verlag redet nicht darüber, wie viel Geld er mit der Zeitschrift verdient. Eine Analyse von Marktforschern ergab, dass Apotheken im Durchschnitt 5000 Euro pro Jahr für Zeitschriften bezahlen, die sie an ihre Kunden abgeben; manche sogar 10 000 Euro und mehr. In Deutschland gibt es mehr als 21 000 Apotheken. Davon sollen etwa 90 Prozent die Apotheken Umschau beziehen.

Viele Verlage, die das Blatt früher belächelt haben, beneiden die Apotheken Umschau inzwischen um ihr Geschäftsmodell: Die Menschen, die sie lesen, bezahlen sie nicht. Die Menschen, die sie bezahlen, lesen sie nicht - sie verschenken sie nur. »Die Idee ist ja nicht neu«, sagt Rolf Becker. Wenn er von den Blättchen spricht, die Kaufmänner einst an Kunden verteilten, entsteht ein Bild der Dreißigerjahre. Ein Gesetz begünstigte diese Blättchen: Jedermann, der Handel trieb, unterlag dem Rabattgesetz und der Zugabeverordnung. Damit war untersagt, Kunden dadurch zu locken, dass sie bei einem Kauf außer der Ware noch etwas anderes erhalten. Das Gesetz ließ jedoch eine Lücke: Kundenzeitschriften belehrenden und unterhaltenden Inhalts.

Becker kannte diese Blättchen aus seiner Jugend. Geboren in Brandenburg, lernte Becker damals bei einer Bank. Dann kam der Krieg. Becker überlebte ihn mit einer schweren Gesichtsverletzung; der Bomber, in dem er als Bordschütze flog, wurde abgeschossen. Als er nach dem Krieg ein Auskommen suchte, arbeitete er in der Arzneimittelbranche. 1955 gründete er den Wort & Bild Verlag, der Kundenzeitschriften jenes Typs für Apotheken anbot.

Die erste Ausgabe erschien 1956 in einer Auflage von 50 000 Stück. Es war nicht das erste Blättchen seiner Art: Seit 1925 existierte bereits ein Ratgeber aus Ihrer Apotheke, seit 1952 die Neue Apotheken Illustrierte, die der Verband der Apotheker selbst herausgab. Die Apotheker verteilten die Blättchen willig. Die Apotheken Umschau wuchs, und mit ihr der Markt. Das Geschäft war ein wohlgehütetes Geheimnis. Kaum einer kannte den Verlag. Einen Verleger Rolf Becker?

Im Verlag der Apotheken Umschau ging die Angst um.

Die Münchner Kunstszene verband mit diesem Namen einen Mann im Nadelstreifenanzug, der Anfang der Sechzigerjahre eine Galerie im Künstlerhaus am Lenbachplatz besaß. Dort erschoss eine Bildhauerin einmal mit einem Gewehr ihre eigene Gipsfigur, in die Bierbüchsen und Eier der Handelsklasse C gestopft waren. Niemand wusste, was das sollte, und Künstler wie jene Niki de Saint Phalle oder ihren Kollegen Christo kannte auch keiner. »Die Neuen Realisten«, sagt Rolf Becker heute. »Ich habe damals ja auch die erste Ausstellung von Hans Hofmann gemacht.« Wer ist denn das? »Ich bitte Sie. Pollock war sein Schüler.«

Nach der ersten Ausgabe dauerte es 16 Jahre, bis die Auflage 1972 auf 500000 Stück im Monat stieg. 1978 waren es eine Million. Nach der deutschen Einheit drei. Becker hatte den Apotheken in der ehemaligen DDR, die staatlich kontrolliert waren, seine Zeitschrift gleich nach der Wende für Ostmark angeboten.

Einer, der die Apotheken Umschau noch in jenen Zeiten vor der Jahrtausendwende erlebte, zeichnet das Bild einer Zeitschrift, die nur zwei Arten von Mitarbeitern benötigte: Anzeigenverkäufer und ein paar Mitarbeiter, die den Platz zwischen den Anzeigen zu füllen hatten. Schnupfen war schon damals ein beliebtes Thema. Eine Schlagzeile war aber auch wert, wenn es ein Apotheker ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hatte, weil er ein 1100 Meter langes Gemälde aus 1100 Einzelbildern zum 1100. Geburtstag von Duisburg malte. In der betulichen Anmutung des Blatts spiegelte sich vor allem eine Gewissheit wieder: Die Apotheken Umschau war ein Selbstläufer, um den sich der Verlag 40 Jahre lang wenig Sorgen machen musste. Der Markt war sicher, sozusagen per Gesetz. In den Neunzigerjahren aber war klar: Die Europäische Union wird die Zugabeverordnung kippen.

Im Verlag der Apotheken Umschau ging die Angst um. Marktbeobachter prophezeiten dem Blatt den Tod. »Ich musste mir überlegen: Wie wird es weitergehen?«, sagt Rolf Becker. Er war damals, zur Jahrtausendwende, fast 80. Andere Verleger verkaufen ihre Verlage lange vor diesem Alter. Becker investierte in seine Redaktion. Auf einmal durften seine Journalisten auch ins Ausland telefonieren. Fotostrecken wurden aufwändig produziert. Dann traf Rolf Becker eine wagemutige Entscheidung: Er nahm alles Geld, das er an der Hand hatte, und buchte für mehrere Millionen Mark Fernsehwerbung.

Im Juni 2000 liefen das erste Mal Werbespots der Apotheken Umschau im Fernsehen. Das Publikum wurde aufgefordert, beim Einkauf in der Apotheke nach der Zeitschrift zu fragen. Bis heute wissen Apotheker nicht, ob sie Rolf Becker dafür dankbar sein oder ihn verfluchen sollen. Die Spots spülten ihnen Kunden in die Apotheken, die ihre Apotheken Umschau abholten, aber nicht ahnten, dass der Apotheker jedes einzelne Exemplar bezahlen musste. Zwar waren die Spots auch Werbung für die Apotheke an sich - aber vor allem erzeugten sie Druck auf Apotheker, etwas zu abonnieren, was sie dann zu verschenken hatten.

Manche Apotheker nennen diese TV-Werbung eine »clevere Marketing-Idee«. Andere nennen sie »charmante Erpressung«. Mit seinem Namen bezeugen will diese Aussagen aber niemand. Auch Apothekerverbände und -kammern wollen sich zu dem Blatt nicht äußern. Offiziell heißt es, man könne als Apotheker in Verbandsfunktion nicht Stellung nehmen, da der eigene Verband ja ebenfalls eine Apotheken-Zeitschrift herausgebe, die Neue Apotheken Illustrierte - mit einem ähnlichen Geschäftsmodell. Unter der Hand erklären Kritiker ihr Schweigen mit dem Ruf Beckers, als Geschäftsmann keine Gnade zu kennen. Sein Verlag ist berüchtigt dafür, streitlustige Anwälte zu beschäftigen. Vielleicht haben sich die Apotheker auch mit der Marktmacht Beckers arrangiert. Manche bestellen ein paar Dutzend Umschauen und legen ansonsten deren billigere Konkurrenten aus.

Die Fernsehwerbung erfüllte ihren Zweck: Die Auflage der Apotheken Umschau schoss nach oben. Schon zwei Jahre nach dem ersten Spot - und zugleich ein Jahr nach dem Ende der Zugabeverordnung -, verkaufte sie mehr als sechs Millionen Exemplare im Monat. 2005 waren es sieben Millionen. 2006 acht. Heute hat nur eine Zeitschrift in Deutschland eine höhere Auflage - die Mitgliederzeitschrift des ADAC, mehr als 13 Millionen. Angeblich will Becker diese Bestmarke noch zu seinen Lebzeiten fallen sehen. In einer alternden Gesellschaft spielt das Thema Gesundheit eine große Rolle - keine schlechten Voraussetzungen also.

Im Jahr 2008 warf die Fernsehsendung Frontal 21 dem Verlag vor, sich in der Berichterstattung der Apotheken Umschau von Anzeigenbuchungen beeinflussen zu lassen. Der Verlag klagte, bis das Fernsehmagazin erklärte, die Vorwürfe nicht aufrechtzuerhalten. Peter Kanzler und Hans Haltmeier sagen, es gebe keinen Einfluss der Anzeigenabteilung auf Redakteure. Rolf Becker schnaubt nur, wenn man ihn nach der Sache fragt. Er sieht hinter Angriffen auf seinen Verlag vor allem eines: Neid.

Dabei wissen nur wenige Eingeweihte, wie viel Geld der Verlag mit der Umschau verdient. Die Chefredakteure verweisen auf den Geschäftsführer, Beckers Sohn Hartmut, der aber entgegnet, man könne ja seinen Vater fragen. Wie viel Umsatz also?

»Eine Menge«, sagt Rolf Becker.
Und Gewinn?
»Machen wir«, sagt er.

So brüsk will er das dann doch nicht stehen lassen, und so setzt er nach: »Ich habe die vergangenen Jahre nichts entnommen. Gewinn wird investiert.«

Rolf Becker entschied vergangenes Jahr, eine siebenstellige Summe aufzuwenden, um eine App für Apotheken zu entwickeln, eine Applikation für Mobiltelefone und Tablet-Computer. Becker spricht App aus wie Heinz Schenk einst den Anfang von Äppelwoi, aber er kennt sich aus in dieser Technik. Jeder könne damit die Wechselwirkungen von Medikamenten prüfen, erklärt er, oder deren Beipackzettel abrufen, allerdings verfasst in einer Sprache, die auch Laien verstehen. Beiläufig lässt Becker fallen, er habe kürzlich prominenten Besuch in Baierbrunn gehabt, als die App auf den Markt kam.

Dieser Herr, von dem Becker spricht, heißt Paolo Varani. Laut seiner Visitenkarte ist er für »Tech Evangelism« zuständig. Genauer gesagt für Applikationen oder kurz Apps, ein Geschäftsfeld, von dem viele Medienmanager glauben, es werde die Welt der Zeitschriften für immer verändern - die Frage bleibt allerdings, wie sie Geld damit verdienen werden. Rolf Becker ist sich sicher, dass er eine Antwort bereits gefunden hat: Das Geschäftsmodell hinter seiner App ähnelt dem seiner Zeitschrift. Ein Nutzer kann sie kostenfrei herunterladen, aber wenn er sie nutzen will, muss er aus einer Liste von Apotheken in seiner Nähe eine Stammapotheke auswählen, sonst funktioniert das Programm nicht. Um in dieser Liste aufzutauchen, zahlen Apotheker 33 Euro im Monat an Beckers Verlag.

Dieses Geschäftsmodell wollte Paolo Varani genauer kennenlernen. Sein Arbeitgeber, der ihn dafür in ein kleines bayerisches Dorf schickte, um die Ideen eines 92-jährigen Verlegers zu studieren, ist der Weltkonzern Apple.

Foto: Camillo Büchelmeier; Illustration: La Tigra