Die E-Mail einer Mutter: Alle Eltern mögen bitte überprüfen, ob ihre Adresse auf der Klassenliste noch stimme. Sie stimmt nicht. »Welserstraße«, dort wohnten wir zu viert, heute leben meine Töchter wochenweise bei Jan und mir. Ich notiere beide Adressen und antworte der Mutter, die freiwillig Listen pflegt. »Was pflege ich eigentlich?«, frage ich mich, da kommt eine neue Nachricht: Zwei Adressen passten schlecht in die Spalten, schreibt Mutter D., wo denn der Lebensmittelpunkt der Kinder sei?
Der Lebensmittelpunkt. Meine Kinder führen ein multilokales Familienleben, so heißt das in der Fachsprache. Jeden Montag nach der Schule wechseln sie von einem zum anderen. Sie kehren zurück, lassen sich auf die Betten fallen und machen Falten in die Tagesdecken, endlich. Ich kenne viele Familien, die das Wechselmodell leben. Für die Kinder scheint das selbstverständlich. Aber Lehrer, Tanten und Großeltern fragen besorgt: Mutet ihr ihnen nicht zu viel zu?
Hinter den Fragen die Erwartung, dass ich von schlechten Noten erzähle, von blassen Gesichtern und auffälligem Verhalten. Von den schlimmen Dingen, die einen treffen, wenn man als Familie nicht mehr in eine Spalte passt. Aber Martha und Louise geht es gut. Sie kommen fröhlich und gehen leicht, weil sie sich auf ihren Vater freuen. Auf die Patchwork-Geschwister, die Villa Kunterbunt, in der sie zu sechst leben.
Nur manchmal sagen sie, dass sie bleiben möchten, weil sie sich gerade an alles gewöhnt hätten. Doch es ist Montag, also gehen sie. Sie lassen angefangene Zeichnungen liegen, und das Buch? Bleibt zurück, es ist zu schwer. Wirst du Cello üben, Louise? Mal sehen. Mit jeder Woche wechseln die Regeln und Gewohnheiten. Projekte, die nicht in Kursen unterrichtet werden, sind kaum durchzuhalten. Instrument spielen geht, Sport auch, alles andere wird vergessen, Verabredungen verschoben: Sehen wir uns nächste Woche? Ich weiß nicht, ich bin beim Papa. Die Mädchen sagen es leicht hin, so ist es eben.
Ob sie als Erwachsene Montage hassen werden, frage ich mich, sehe dafür aber keine Anzeichen. Ein Schultag trennt ihre Elternhäuser, sechs Stunden Unterricht liegen zwischen der Vater- und der Mutterwelt. Das macht es einfacher. Morgens ein Kuss, der nun ein paar Tage länger halten muss. Kein dramatisches Winken, und doch die vertraute Schwere im Magen, die Erinnerung an eigene Wechsel.
Ich bin bei meinem Vater aufgewachsen, meine Mutter habe ich einmal im Monat besucht. Die Rückfahrt immer sonntags, das Rot der Ampeln durch verheulte Augen zu Streifen gezogen, Lakritzbonbon im Mund. Nein, ich pfeife auf die Lebensmittelpunktler. Lieber nehme ich Halbfertiges und Liegengelassenes in Kauf. Lieber zwei Zimmer und zwei Eltern als von beidem nur eines. Ob Martha und Louise ähnlich empfinden? Das werde ich sie fragen, sobald sie verstanden haben, dass ihr Leben nicht so normal ist, wie sie behaupten.
Illustration: Grace Helmer