ARD und RTL, zum Schmunzeln und zum Wegschmeißen: Nuhr kriegt den Lateinlehrer aus Tübingen, aber genauso die Kassiererin aus dem Wedding.
Natürlich ist er der Dieter. Alles andere würde nicht passen. Herr Nuhr – nein, das geht nicht. Dieter also sitzt im Restaurant des Coburger Kongresshauses und isst ein Schweineschnitzel mit Beilagensalat. Kalb wäre ihm lieber gewesen, aber was soll’s, wir sind in Coburg. Er stößt die Gabel in ein Häuflein Bohnen und beißt hinein, »uhh«, sagt er und verzieht das Gesicht, »die quietschen, das hatte ich lange nicht mehr«.
Es ist zehn vor acht, in zehn Minuten soll er auf der Bühne stehen, tausend Menschen sind gekommen, die Halle ist ausverkauft, wie immer bei ihm. »Noch einen Espresso«, bittet er die Bedienung. Es ist sieben Minuten vor acht. »Dieter, gleich musst du los«, warnt sein Agent. »Jaja«, sagt der Dieter. Er trägt ein graues T-Shirt, gelb gefleckte Jeans und Turnschuhe. Im Grunde sieht er aus wie die Menschen, die drüben in der Halle auf ihn warten.
Dieter Nuhr ist mal wieder unterwegs, Erlangen, Bamberg, Coburg, die Deutschen kriegen einfach nicht genug von ihm: Sein Buch Der ultimative Ratgeber für alles stand wochenlang auf Nummer eins der Spiegel-Bestsellerliste, vor Bud Spencer und Joachim Fuchsberger, sogar vor Helmut Schmidt und Richard David Precht, Auflage: 150 000 Exemplare. Seine DVD – erfolgreich. Seine CDs – erfolgreich. Er hat Kolumnen geschrieben, Radio gemacht, die Fußball-WM (der Männer) kommentiert und den politischen Jahresrückblick für das ZDF moderiert; seit Anfang des Jahres hat er den Satire Gipfel von Mathias Richling übernommen, gerade testet ihn die ARD für ein neues Vorabendformat. 77 000 Menschen lesen seine Facebook-Kommentare, die des Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland lesen 4600. »Wattenmeer wird Welterbestätte. Macht nichts, dann machen wir den Windpark eben drinnen.« Das ist so ein typischer Nuhr-Kommentar, ein, zwei Sätze, spontan in die Tasten gehackt, ironisch, ein bisschen höhnisch, aber nie wirklich böse.
Dieter Nuhr ist fast so präsent wie Stefan Raab oder Dieter Bohlen, er fällt nur weniger auf, weil er leiser ist. Nuhr kommt subkutan, von hinten, von der Seite, nie frontal, aber er kommt. Man kann schon sagen, dass Dieter Nuhr im Jahr 2011 die öffentliche Meinung in Deutschland ein bisschen beeinflusst.
Punkt acht Uhr teilt er den Vorhang und tritt auf die Bühne. Die Coburger jubeln. Endlich mal keine IHK-Messe oder Tattoo Convention, endlich mal wieder einer der Großen, einer aus dem Fernsehen. Dieter Nuhr hat sich nicht umgezogen – wann auch? –, neben ihm steht ein Bartisch, darauf ein Glas Wasser und sein iPad, das wirklich so dermaßen flach ist, dass die Zuschauer nicht merken, wie er ab und zu einen Blick drauf wirft oder mit dem Finger drüberwischt; die ersten Minuten eines Nuhr-Programms sind aktuell, soll ihm keiner nachsagen, er spule ständig die gleichen Pointen ab. Vor ein paar Wochen haben sie Osama bin Laden erschossen – ein Glücksfall auch für ihn, den Kabarettisten. Der tote Araber füllt locker die ersten zehn Minuten. »Ich hab es ihm ja immer gesagt«, witzelt Nuhr, »Osama, hab ich gesagt: Terrorist ist kein Beruf, der im Alter glücklich macht.« Nach einer kurzen Pause fragt er weiter: »Aber wie sind die Amis ihm denn überhaupt auf die Schliche gekommen?« Wieder Pause. »Der wird doch nicht den Hausbesitzerbogen der Volkszählung ausgefüllt haben.« Man muss das nicht lustig finden, aber die meisten tun es. Es ist der Moment, in dem Weltpolitik und Coburger Alltag zum ersten Mal aufeinanderprallen, jetzt noch drei, vier Sätze zur Porno-Party der Hamburg-Mannheimer in Budapest, dann hat er sie, dann läuft die Sache.
Gut sieht er aus da oben, eine angenehme Erscheinung, man könnte ihn attraktiv nennen, 50 Jahre alt, schlank und trainiert, sympathische Grübchen, die Augen warm, das Gesicht braun und wohlproportioniert. Nuhr macht sich nicht schöner oder hässlicher, als er ist. Er verkleidet sich auch nicht, bloß weil es ziemlich viele Menschen gibt, die bis zu 30 Euro zahlen, um ihn erleben zu dürfen. Sein Programm Ich bin’s nuhr aus dem Jahr 2006 sahen eine halbe Million Besucher.
Seine Kollegen aus dem Quatsch Comedy Club ziehen Rautenpullunder oder pinkfarbene Frottee-Trainingsanzüge an, sie blödeln als Kunstfiguren durch die Gegend, sie inszenieren eigene Unzulänglichkeit in der Hoffnung, dass am Ende was Komisches dabei herauskommt; Dieter Nuhr erzählt nur, aber das macht er gut, setzt Pausen, verzögert, dreht Schleifen. Es ist wie in der Schule, wenn der Lehrer die Klasse nur noch zur Ruhe bringt, indem er beim Sprechen plötzlich leiser und leiser wird. Grelle Karrieren verglühen, substanzielle entwickeln sich. Normal sein – das geht eben immer, notfalls ein Leben lang. Dieter Nuhr ist wahnsinnig normal.
Die Welt ist aus den Fugen
Der versteckt sich nicht, der hat auch keine Angst, der will nur soielen: Dieter Nuhr, 50, wenige Minuten vor seinem Auftritt im Coburger Kongresshaus.
Mario Barth tut prolliger, als er ist, Cindy aus Marzahn macht sich hässlicher, Bülent Ceylan türkischer, Ingo Appelt unverschämter; kann man alles machen, funktioniert zwei, drei Sommer lang, danach ist es vorbei. Mario Barth zum Beispiel, der Über-Comedian der letzten Jahre. Hat das Olympiastadion vollgekriegt. Hat Werbung für Media Markt gemacht. War überall. Jetzt fallen die Quoten, Karten für seine Show werden verramscht. Zwei zum Preis für eine. Der Abstieg hat begonnen.
Nuhr hat noch einen Vorteil: Er ist beides: Kabarettist und Comedian, ARD und RTL, zum Schmunzeln und zum Wegschmeißen. Dafür braucht er nicht zwei Shows, es reicht eine, sodass die eine Hälfte des Publikums über den Gag und die andere über die Anspielung dahinter lachen kann. Kulturwissenschaftler sagen »doppelte Lesart« dazu. Vor ein paar Jahren hat ein Kritiker geschrieben, man könne Nuhrs Programm auf zwei verschiedenen Betriebssystemen laufen lassen. Das Bild hat ihm gefallen. Und tatsächlich ist Nuhr der Einzige, der sowohl den Deutschen Comedy-Preis als auch den Deutschen Kleinkunstpreis für Kabarett zu Hause im Schrank stehen hat. Er kriegt sie eben beide, den Lateinlehrer aus Tübingen und die Kassiererin aus dem Wedding, und das Beste: Keine der beiden Gruppen fühlt sich verraten oder missverstanden. Man kann es nicht anders sagen: Die Menschen scheinen Dieter Nuhr den Erfolg zu gönnen. Und er genießt ihn. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner 14 Jahre alten Tochter lebt er in Ratingen, »inzwischen ziemlich üppig«, sagt er, »mit einem großen Garten, damit uns keiner reinschaut«.
»Die Welt ist aus den Fugen«, hat Angela Merkel neulich gesagt. Ein erstaunlicher Satz für eine Bundeskanzlerin – und ganz nebenbei die Erklärung für Nuhrs Aufstieg und Erfolg. Kabarett macht er seit 1987, kurz vor dem Staatsexamen in Geschichte und Kunstpädagogik hat er damit angefangen, als ob er geahnt hätte, dass Lehrer nicht das Richtige für ihn ist. Er hat den Job dann auch nach dem ersten Staatsexamen geschmissen, seitdem nimmt die Zahl seiner Fans jedes Jahr zu, seit ein, zwei Jahren explodiert seine Karriere: »Inzwischen«, sagt er, »kann ich meine Unterhosen nicht mehr selbst kaufen.« Es gehe nicht mehr, da sei eine Grenze erreicht. Die Menschen schauen und tuscheln und grinsen. Warum aber ist ausgerechnet er so erfolgreich, wo er doch vor ein paar Jahren noch die Internetadresse seiner Homepage auf seine T-Shirts hat drucken lassen, damit die Menschen sich auch ja an ihn erinnern?
Wenn man seine Programme der letzten Jahre durchgeht, versteht man schnell, warum dieser Mann so gut in unsere Zeit und, ja, auch zu uns passt. Denn natürlich macht er sich lustig über die Kirche und den Murks von Merkel und Westerwelle, ohne geht es nicht, da fühlt er sich alter Kabarett-Tradition verpflichtet, aber er macht sich eben auch lustig über die SPD und die Grünen, die Wutbürger und den Dalai-Lama, die Gutmenschen, die Demonstranten und die Öko-Fuzzis, die überehrgeizigen Mütter und die Kinder, die laut ihren Eltern alle superschlau, nur eben ziemlich faul sind. Nuhr schlägt sich nicht automatisch auf die Seite des Schwächeren, er erlaubt sich sogar den Gedanken, dass der Schwächere unrecht hat und vielleicht nur mosert, weil er eben der Schwächere ist. Zum Beispiel Stuttgart 21, »dieses lebensbedrohliche Ding«, sagt Nuhr, »ein Bahnhof, mitten in Stuttgart. Wahnsinn.« Und die Menschen? Empört. Natürlich. Hauptsache empört, aber so sei er nun mal, der Bürger im Jahr 2011, der Wutbürger eben. »Ich weiß gar nicht«, sagt Nuhr, nicht auf der Bühne, sondern vorher beim Schnitzelessen, »ich weiß gar nicht, warum zurzeit alle so wütend sind. Also mir hat ein Mensch, der wütend ist, noch nie Respekt eingeflößt.«
Nuhr hat nicht über Nacht in die Verkaufs- und Bestsellerlisten eingeschlagen, es ist eher so, dass sich die Lage der Nation seiner Sicht der Dinge und seinem Humor entgegenentwickelt hat. Nuhr weiß: Alle haben recht und unrecht zugleich, je nach Perspektive, eine Wahrheit gibt es nicht mehr, nur unterschiedlich schlechte Alternativen. Seit Neuestem gibt ihm die Realität recht: Die CDU schafft die Atomkraft ab, die Grünen regieren bald Deutschland, und Versicherungsvertreter sind doch keine prüden Langweiler.
Nuhr dient sich keinem Milieu an und steht auf keiner Seite, er steht drüber oder besser: daneben. Von da aus lässt es sich am besten kommentieren. Man nimmt ihm dieses Gegenteil einer Haltung ab, weil er früher selbst links war oder sich zumindest so fühlte: »Waldsterbenpanik, Anti-Atomkraft-Demos, lange Haare«, sagt er, »das volle Programm.« Danach habe er zu denken begonnen. Man kann es auch so sagen: Im Gegensatz zu seinen Vorgängern beim Satire Gipfel, im Gegensatz zu Dieter Hildebrandt, Bruno Jonas und Mathias Richling, kommt er nicht aus der linken Kleinkunst-Ecke, wo Kerzen in Bardolino-Flaschen stecken, er teilt die Welt auch nicht in Schwarz und Weiß oder Gut und Böse ein. Im Gegensatz zu ihnen ist Nuhr auf der Höhe einer ziemlich chaotischen Zeit.
Die Welt ist aus den Fugen: Im Laufe seiner Show setzt Nuhr sie nicht zusammen, sondern macht die Orientierungslosigkeit – die der anderen, aber auch die eigene – zum Thema. Als Folge fühlen sich seine Zuschauer nicht belehrt, sondern verstanden: Es gibt kein schöneres Gefühl.
Anspruch und Wirklichkeit, Schein und Sein, Wille und Resultat, das sind seine Themen. Alte Wahrheiten sind verrückt, unsere kleine Welt ist unübersichtlicher und unvorhersehbarer geworden. Die Folgen: Unsicherheit und Angst. Und wer Angst hat, braucht einen, der ihn versteht. Und da kommt er ins Spiel, Dieter mit den gelb gefleckten Jeans und der schläfrig leiernden Stimme. Der Dieter, der die positive Weltsicht nicht den »Geisteskranken und Volksmusikanten überlassen möchte«, der uns ab und an zum Denken, aber meistens zum Lachen bringt.
Eine Nation hat nicht nur die Regierung, sie hat auch die Komiker, die sie verdient. Und so gesehen ist unser kleines Land nicht genial, aber sympathisch, smart und ganz okay. Eigentlich lässt es sich ziemlich gut darin leben, es fällt nur niemandem auf.
Fotos: Tanja Kernweiss