Kurze Prozesse (II)

Eine Psychose macht Sascha W. unberechenbar. Nach einer Therapie bleibt die Frage: Wie gesund muss einer sein, dass er ins Leben zurückdarf?


Sascha W. hielt die Straße für einen Fluss, und deshalb nahm er einen fußballgroßen Steinbrocken und warf ihn vor die fahrenden Autos. Zwei Passanten, die ihm entgegenkamen, drohte er Gewalt an; er dachte, sie wüssten um seine Glasknochenkrankheit und wollten ihn verletzen. Die Polizei griff ihn auf, und als wenig später die Einweisung in die psychiatrische Abteilung des Strafvollzugs angeordnet wurde, war er davon überzeugt, dass ihm nur eine Notoperation am Gehirn, vom Richter persönlich vorgenommen, das Leben retten würde. Auch glaubte er, dass er ein Engel sei.

Das war im Frühling 2009. Jetzt sitzt Sascha W., ein kräftiger Mann Mitte zwanzig mit Pferdeschwanz, wieder auf der Anklagebank und folgt aufmerksam den Ausführungen des Gerichts. Es geht um die Frage, ob er nach eineinhalb Jahren Therapie im Strafvollzug in eine geschlossene psychiatrische Anstalt verlegt wird, oder ob sein Befinden mittlerweile eine offenere Form der Therapie zulässt.
Als Zeugin geladen ist die Gefängnisärztin, eine junge Asiatin, die in sachlicher Diktion, aber mit spürbarer Anteilnahme von den Erfolgen ihres Patienten erzählt: Lange Zeit hat es keine verträgliche Kombination von Medikamenten für Sascha W. gegeben, und er war nicht dazu zu bewegen, am therapeutischen Programm der Klinik teilzunehmen. Seit einigen Monaten aber sei die richtige Zusammenstellung endlich gefunden, wie die Ärztin sagt: »Er distanziert sich inzwischen deutlich von seinen Wahnvorstellungen.« Sie empfiehlt dem Gericht, Sascha W. von nun an in einem Kreuzberger Übergangswohnheim betreuen zu lassen. Drei Pfleger für acht Bewohner, feste Tagesstruktur, Medikamentenausgabe zentral organisiert, der psychologische Notdienst rund um die Uhr besetzt. Im nahe gelegenen Krankenhaus müsste sich Sascha W. einmal im Monat untersuchen lassen. Der Heimplatz, sagt die Gefängnisärztin, ist auf fünf Jahre befristet. Am Ende dieser Zeit würden die
Bewohner auf eine Ausbildung und ein Leben in Selbstständigkeit vorbereitet werden.

Als die Ärztin aus dem Zeugenstand entlassen wird, bleibt sie im Gerichtssaal, geht nach hinten Richtung Zuhörerbank und setzt sich neben eine Frau um die 50, mit hennarot gefärbten Haaren. Es ist offenbar die Mutter des Angeklagten, die sich nun das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen anhören muss, über den Weg ihres Sohnes in jene Krankheit, die hier als »paranoid-halluzinatorische Psychose« bezeichnet wird. Der Vater, alkoholabhängig und aggressiv, verlässt die Familie kurz nach Saschas Geburt; die Mutter, eine Sekretärin, lebt mit ihrem einzigen Kind zunächst in Wohngemeinschaften und dann in einem kleinen Apartment. Die Erzählungen aus der frühen Kindheit, so der Gutachter, zeigen keine Auffälligkeiten, doch als Sascha zehn Jahre alt ist, »sei die Mutter einmal länger krank gewesen und habe ihm nichts mehr zu essen gekocht«. Er geht fortan nur noch unregelmäßig zur Schule und beginnt, Haschisch zu rauchen. In der Pubertät dann zeigen sich die ersten »psychotischen« Störungen: ein Wort, das der Gutachter mit kurzem O ausspricht, »psychottisch«.

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Zwei Ordnungsinstanzen greifen auf dieses abweichende Leben zu, die Justiz und die Psychiatrie. Und alle Parteien sind sich einig, dass ein »optimaler Therapieerfolg« erzielt worden sei. Der Staatsanwalt und der Verteidiger sprechen sich wie der Gutachter für die Unterbringung im offenen Wohnheim aus. Das letzte Wort vor der Urteilsverkündung gehört dann dem Angeklagten, der sich noch einmal für seine Taten entschuldigt. Er tut dies mit derart mechanischer Stimme, dass man plötzlich daran zweifelt, ob die Veränderung seines Zustands wirklich als Heilung empfunden werden kann, ob ein »Therapieerfolg« im Sinne der Psychiatrie nicht doch nur der Effekt möglichst hochdosierter Psychopharmaka ist.

Der Richter jedenfalls, der den Plädoyers in seinem Urteil folgt, beendet das Verfahren mit einer kurzen, erhebenden Ansprache, die seiner Hoffnung auf weitere Fortschritte im Leben Sascha W.s Ausdruck verleiht. Er tut dies in leicht pathetischem Tonfall, sodass man sich am Ende wundert, dass im Saal kein Applaus ertönt.

Illustration: Christoph Niemann