Kurze Prozesse (I)

Uwe V., 45, und Sebastian K., 17, räumen bei einem Trinkgelage die Wohnung des Gastgebers aus. Am Ende scheitert das Gericht an den Eigenarten des Milieus.



Vor der Verhandlung herrscht Verwirrung, weil die Mutter des jüngeren Angeklagten ihr zweites Kind mitgebracht hat, einen vielleicht fünfjährigen Jungen im »Superman«-T-Shirt. Er ist bemerkenswert hübsch, mit großen braunen Augen. Mutter und Sohn sind die einzigen Zuschauer in dem kleinen Saal im Amtsgericht Moabit. Der Richter zögert, mit dem Prozess zu beginnen; die Staatsanwältin regt an, den Jungen der Erzieherin unten im Betreuungsraum für die Zeugen anzuvertrauen, doch diese Stelle, sagt der Richter, sei vor Kurzem gestrichen worden. Er erklärt das Verfahren für eröffnet.

Die Staatsanwältin verliest die Anklageschrift: Uwe V., ein düster umherblickender Mann mit dilettantischen Tätowierungen im Gesicht, stößt mit dem 17-jährigen Sebastian K. zu einem Trinkgelage in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes. Begleitet werden sie von dem wohnsitzlosen, seither verschollenen Patrick W., 18. Im Lauf des Abends soll Uwe V. mehrere Gäste geschlagen und dann zusammen mit den beiden Jugendlichen Waffen, Kleidung, Computer, Flachbildschirm und DVD-Player aus der Wohnung des volltrunkenen Gastgebers entwendet haben. Auf der Zuschauerbank verfolgt der kleine Junge die Verhandlung mit wachem Blick. Häufig fällt der Name seines Bruders Sebastian; die Gewalttaten in der Marzahner Hochhaus-Wohnung an diesem Samstagabend im September 2009, die Handkantenschläge und Würgegriffe, werden von der Staatsanwältin detailliert beschrieben. Von Zeit zu Zeit summt das Kind ein bisschen vor sich hin, dann wird es vom Justizbeamten mit einem lauten »Psst!« ermahnt.

Die drei anderen Besucher in der Wohnung werden nun als Zeugen befragt. Nur der Gastgeber selbst, der am Tag nach dem Gelage die Polizei verständigt hat, kann heute nicht gehört werden; er macht einen Alkoholentzug in einer geschlossenen Klinik. Die Vernehmungen sind ein Schauspiel der Gleichgültigkeit: Die Fragen des Richters werden von den Zeugen konsequent weggenuschelt, falsch verstanden, für unbeantwortbar erklärt. »Hat Uwe V. die Gäste wirklich bedroht?» – »Weiß ich nicht mehr.« – »Wer genau begann damit, die Sachen aus der Wohnung zu tragen?« – »Keine Ahnung.«

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In den Pausen auf dem Gerichtsflur ist erkennbar, dass sich die drei Zeugen wieder bestens mit den Angeklagten vertragen. Da die Anstiftung zum Diebstahl überdies von allen auf den abwesenden Patrick W. geschoben wird, wirkt das Ganze einige Zeit lang wie eine virtuose Absprache, wie eine vorgetäuschte Trübung des Bewusstseins. Doch die eklatanten Widersprüche in den Aussagen machen diesen Verdacht schnell zunichte.

Man kann dem Gericht dabei zusehen, wie es sich Stunde um Stunde vergeblicher darum bemüht, mit seiner Rationalität den Kosmos einer Gruppe berufsloser Alkoholiker zu begreifen. Immer wieder umkreisen Richter und Staatsanwältin dieselbe Frage: Wie konnte es geschehen, dass die kleine Einzimmerwohnung eines »guten Kumpels«, wie die Zeugen den Gastgeber ständig nennen, vollkommen leergeräumt wurde, ohne dass jemand dagegen eingeschritten wäre? Die Antworten bestehen aus nichts als Seufzern und Schulterzucken.

Kurz nach Erhebung der Anklage hat der bestohlene Gastgeber auch seine Anzeige zurückgezogen, ein Teil der Gegenstände ist wieder aufgetaucht, und man fragt sich, wozu es in einem Fall wie diesem überhaupt der übergeordneten Instanz eines Rechtsstaates bedarf, wenn sich alles im Milieu selbst zu regulieren scheint. Der Prozess endet mit Freispruch für Sebastian K. und einer zur Bewährung ausgesprochenen Gefängnisstrafe für Uwe V., wegen Körperverletzung.

Am Ende des Verhandlungstages ist das Kind müde und aufgekratzt, schubst seinen älteren Bruder auf dem Gang vor sich her und ruft: »Du bist verhaftet! Du bist verhaftet!« Dann kniet es sich auf den Boden, weil das von den Gitterfenstern gebrochene Licht dieses ersten Sommertages in Berlin bunte Streifen auf den Linoleumflur wirft. »Ein Regenbogen«, sagt der Junge und schaut hinauf zu seinem Bruder. »Kann man den kaputtmachen?«

Illustration: Christoph Niemann