Dr. Jekyll und Mr. Hartz

Der frühere Manager Peter Hartz galt als der beste Freund der Arbeiter – bis zur VW-Affäre. Am Mittwoch beginnt der Prozess gegen den Mann mit den zwei Gesichtern.

Der Legende nach verdankt die deutsche Sprache Peter Hartz so kreative Wortschöpfungen wie »Job-Floater«, »Ich-AG«, »Arbeitszeitkonten«. Aber wenn der 65-Jährige redet, zum Beispiel während der Vernehmung durch die Braunschweiger Staatsanwaltschaft im Herbst des vergangenen Jahres, wirkt er seltsam steif. Er stockt, macht irritierende Pausen zwischen den Wörtern, baut Satzteile aneinander wie Werkstücke, gerät auf holprige Umwege, um dann endlich zu sagen: »Entsprechend dem Orientierungsrahmen Bonus 2003 für 2002 zur Zeugenvernehmung… vom 18. September 2006 entspricht die Gehaltsgruppierung einer Führungskraft der Gehaltsgruppen 31–34.« Peter Hartz sieht nicht nur so grau aus wie ein Schalterbeamter, er redet auch so. Dabei wird der im Sommer 2005 ausgeschiedene Personalvorstand des Volkswagen-Konzerns in diversen Verlagskatalogen als Verfasser von drei Büchern geführt. Ist tatsächlich immer auch Hartz drin, wo Hartz draufsteht? Er habe seine Bücher, lässt er mitteilen, stets »in Teamarbeit« geschrieben. Das führt zu einer weiteren Frage: Ob es den angeblich größten Arbeitsmarktreformer der vergangenen Jahrzehnte, den Held der Arbeit, dessen Name wie kein anderer mit dem Umbau des deutschen Sozialstaa-tes verbunden wird und der anno 2002 der Nation nicht weniger als 13 »Innovationsmodule« zur Arbeitsmarktreform im Französischen Dom zu Berlin vorlegte, überhaupt jemals so gegeben hat. Oder hätte es das Publikum vor Bekanntwerden der sogenannten VW-Affäre für vorstellbar gehalten, dass ein leibhaftiger Vorstand des deutschesten aller Dax-Konzerne mit einer Art Kammerdiener durch Etablissements in Lissabon hastet, um eine brasilianische Prostituierte namens Joselia R. wiederzufinden, die ihm schon mehrmals zu Diensten war? Ziemlich verschraubt hat Hartz vor den Staatsanwälten seine Eskapaden als »konkrete Ereignisse auf den Reisen« umschrieben. Der Hamburger Johann Schwenn, der den früheren VW-Betriebsratschef Klaus Volkert in der Affäre anwaltlich betreut, drückte sich schon verständlicher aus und nannte die konkreten Ereignisse eine »Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr mit Prostituierten auf Firmenkosten«. Vielleicht haben wir es bei dem 65-jährigen Hartz mit einer jener gespaltenen Persönlichkeiten zu tun, die gar nicht so selten anzutreffen sind in der vorgeblichen Macht-Elite und vor allem durch ihren Glauben an die eigene Bedeutung und durch Statussymbole zusammengehalten werden. Sie predigen Essig oder Wasser, um selbst Wein zu saufen. Aber dass ein firmeneigener Lustreisenorganisator, der ehemalige VW-Manager Klaus-Joachim Gebauer, den Personalvorstand Hartz sowie VW-Betriebsräte mit Frauen zu versorgen hatte, ist in der deutschen Skandalgeschichte ohne Beispiel. Der doppelte Hartz: einerseits ein Schwarmgeist, der aus Betriebsräten Co-Manager und aus Firmen atmende Unternehmen machen wollte. Andererseits ein Gaukler, der aus Co-Managern Kumpanen machte und die Firma in einen stinkenden Pfuhl verwandelte. Im Herbst 2005 erzählte Hartz dem Wochenblatt Die Zeit seinen Wunschtraum: Der Bundespräsident ruft ihn an seinem Geburtstag an, und Hartz schlägt dem Staatsoberhaupt vor, ihn und andere Angehörige der »Macht-Eliten dieses Landes« einzuladen, um den Arbeitslosen zu helfen. Hartz fantasiert: »Und es träumt mir, ich sei Alleinherrscher, ein wunderbarer, sympathischer, liebevoller Alleinherrscher, wie ihn die Weltgeschichte bisher noch nicht gekannt hat und der für sein Volk das Beste will.« Innerhalb eines Jahres werde er die Arbeitslosigkeit beseitigen oder bei Nichterreichen des Ziels sterben. Am Ende des fiebrigen Traums will Hartz Zauberer sein. Wen oder was würde er wohl wegzaubern? Den Begriff Hartz IV ganz sicher, denn die mit seinem Namen versehene Reform hat ihm sogar Morddrohungen eingebracht. Womöglich würde er, Zauberer dürfen das, auch den 17. Januar 2007 ausfallen lassen. An diesem Tag soll vor dem Braunschweiger Landgericht der nur auf zwei Tage angesetzte Prozess gegen Hartz wegen Untreue und Begünstigung des Betriebsrates beginnen. Der Gesamtschaden wird auf mehr als zwei Millionen Euro beziffert. Zum Glück für den Angeklagten wird bei Gericht weder von Joselia R. oder den namenlosen Huren in Shanghai, Seoul, Bratislava und Paris die Rede sein, die berufsmäßig nett zu Peter Hartz waren und deren Kosten in Höhe von mindestens 5772,48 Euro sein Faktotum Gebauer, dem auch die Anklage droht, bei der Firma als Vertrauensspesen abgerechnet haben soll. Wie gesagt: Es gab in der Wirtschaftsgeschichte viele Skandale und tiefe Stürze. Gerade in den Tagen der Siemens-Affäre bestätigt sich wieder die Erkenntnis, dass es keinen Fußbreit Boden im weltumspannenden Reich der Wirtschaft gibt, den man sorglos betreten könnte. Aber so viele zerbeulte Egos und abgeschnittene Karrieren wie der VW-Fall hat selten ein Skandal hinterlassen: Neben Hartz sind ein knappes Dutzend Manager verstrickt.

Da ist der frühere VW-Top-Manager und ehemalige Skoda-Personalvorstand und wohl engste Hartz-Vertraute Helmuth Schuster, der 2002 in der SWR-Talkshow Nachtcafé beteuerte, er sei früher beim Internationalen Frauentag mit zur Demonstration gegangen, weil er an diesem Tag auch Geburtstag habe. Natürlich ließ er sich von VW die Weibergeschichten bezahlen. Da ist der Werksarzt, der Viagra austeilte. Da ist der Trupp Testosteron-gesteuerter Männer, der im Chor »Gebauer, wo sind die Weiber?« grölte. Allein der materielle Schaden hält sich für VW in Grenzen: Für die millionenteuren Puff-Eskapaden des Führungspersonals dürfte am Ende die Manager-Haftpflichtversicherung des Peter Hartz aufkommen. Außenstehende tun sich schwer, die vielen Sumpfblüten zu identifizieren. Alt-Kanzler Gerhard Schröder, ein Duz-Freund von Hartz, mag »zur Affäre nichts sagen«. Dass er den damaligen VW-Personalvorstand 2002 gern ins Kabinett geholt hätte, weil der »die persönlichen und fachlichen Fähigkeiten dafür hatte«, sagt er dann doch: »Aber ich wusste, der wollte bei VW bleiben.« Hartz hat den VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch und den einstigen VW-Vorstandschef Bernd Pischetsrieder im Jahr 2002 gefragt, was sie von seiner Beteiligung an der Reform des Arbeitsmarktes hielten. Beide rieten ab. Hartz machte es trotzdem. Um den Fall Hartz zu verstehen, kann ein bisschen Heimatkunde nicht schaden: Hartz ist Saarländer. Bewohner dieses Grenzgebietes zeichnet oft ein eigenständiges Lebensgefühl aus, das von einer Mischung aus Pragmatik und Schlitzohrigkeit geprägt wird. Auch haben sie nicht selten den Minderwertigkeitskomplex, es »denen im Reich« mal zu zeigen. Peter Hartz hat den zweiten Bildungsweg absolviert, solches Weiterkommen spornt oft lebenslang an: Der Sohn eines Hüttenarbeiters holte abends das Abitur nach und wurde Diplom-Betriebswirt. So einer legt nicht selten viel Wert auf Status und Beachtung. Die Trierer Universität hat ihm den Ehrendoktortitel verliehen, Ministerpräsident Peter Müller (CDU) ehrte ihn mit dem Professorentitel und eine Universität in China ernannte ihn zum Advisory-Professor, was übersetzt »beratender Professor« heißt. »Professor Dr. h.c. Peter Hartz GmbH & Co KG« heißt die Beratungsfirma, die Hartz nach seinem Ausscheiden bei VW gründete. Sie hat ihren Sitz in einem Saarbrücker Gewerbegebiet und die Büros liegen auf derselben Etage wie die Stiftung »Saar-länder helfen Saarländern«. Diese hat Hartz 1999 mitgegründet, sein einzi-ger Sohn Michael ist bis heute ihr Vorstand. Die Welt von Peter Hartz, der einst auch Aufsichtsratschef für VW in Lateinamerika war, ist ziemlich überschaubar geworden. Er lebt zurückgezogen mit der Ehefrau in seinem Haus auf einem Hügel in Rehlingen-Siersburg. Sogar die Pferde sind umgezogen. Der Dressurreiter hat sie nebenan auf einem gepachteten Kirchengrundstück untergebracht. Mit öffentlichen Auftritten hält er sich zurück. Immer noch nicht mag er sich Journalisten von auswärts zum Interview stellen. Vermutlich wäre es auch nicht einfach, mit ihm die Wucherungen seiner Biografie aufzuarbeiten, denn der libidinöse Sozialreformer gehört zu den Zeitgenossen, die sich am liebsten die Fragen selbst stellen und dann auch gleich selbst beantworten. Er sieht eine andere Wirklichkeit als andere, seine eigenen Gefolgsleute ausgenommen. »Wohlwollend, konstruktiv« möchte er die Medien sehen, wenn es um seine Reform geht: »Good news are good news.« Gute Nachrichten gab es ja auch, zumindest als er noch Arbeitsdirektor in den Stahlküchen an der Saar war. Der Sozialdemokrat und Metallgewerkschafter, dessen Bruder Kurt SPD-Landtagsabgeordneter und Bevollmächtigter der IG-Metall war, hat in den Achtzigerjahren mit Hilfe einer Stahlstiftung verhindert, dass an der Saar Tausende Ma-locher wegrationalisiert wurden. Davon schwärmen die Alten in Dillingen und Umgebung noch heute. Aus dieser Zeit ist ein Foto überliefert, das den gebürtigen Saarländer Erich Honecker bei einem Besuch in der Heimat im September 1987 zeigt. An seiner Seite der damalige saarländische Ministerpräsident und Gastgeber Oskar Lafontaine und der damalige Quartiergeber Hartz – beide begleiten den DDR-Staats- und Parteichef zu seiner Bleibe im Gästehaus in Dillingen. Honecker wirkt gewohnt hölzern, Lafontaine sehr jung. Nur Hartz schaut professionell und energiegeladen in die Kamera. Er macht eine ausholende Armbewegung und vermittelt mit seinem weißen Einstecktüchlein den Anschein erheblicher Seriosität. Dass er nach Wolfsburg kam, war schon überraschend. Bei VW war 1993 der Arbeitsdirektor im Alter von 52 Jahren gestorben, und der damalige Betriebsratschef Klaus Volkert hatte eine Idee: Er empfahl, den Neuen im Kreis der Arbeitsdirektoren der Montanindustrie zu suchen. Deren Sprecher war Hartz, damals 52 Jahre alt. VW-Patriarch Piëch, der Porsche-Enkel, flog an die Saar und sprach mit Hartz: »Sie müssen alles mal zehn nehmen: die Probleme, die Belegschaftszahlen – vielleicht auch manchmal mal hundert, leider auch den Personalabbau.« So jedenfalls wird Piëch in der 63 Seiten starken Hartz-Anklage zitiert.

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Der Kollege Metaller und der Milliardär residierten fortan fast Tür an Tür in der obersten 13. Etage des Stammhauses zu Wolfsburg und verstanden sich prächtig. »Menschlich« habe Hartz den Abgang nicht verdient, denn dieser habe »für VW wirklich viel geleistet«, beteuert Piëch dieser Tage. Die ganze Angelegenheit sei einfach »tragisch«. Hartz kreierte – ähnlich wie im Saarland – eine innovative Personalpolitik. Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche ohne vollen Lohnausgleich oder das Projekt 5000 mal 5000, bei dem Arbeitslose unter Tariflohn eingestellt wurden. Wenn es um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ging, hatte er ein messianisches Sendungs- und Pflichtbewusstsein. Bei näherem Hinsehen gab es zwischen Wolfsburg und dem Saarland auch im persönlichen Umgang ein paar frappierende Ähnlichkeiten: »Die saarländische Ausgewogenheit ist quasi die Harmonie der nicht ausgetragenen Widersprüche«, hat der Schriftsteller Ludwig Harig mal über seine Heimat gesagt. Das galt auch für VW, wo sich Betriebsrat und Kapital miteinander arrangierten und der Staat Händchen hielt. »Die Mitglieder des Betriebsrates führen ihr Amt unentgeltlich als Ehrenamt«, heißt es in Paragraph 37, Absatz 1, des Betriebsverfassungsgesetzes. Maßgebend für die Vergütung ist das Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer, deren Tätigkeit mit der des Betriebsrates bei Amtsantritt vergleichbar ist. Mancher Kollege bei VW hielt in der Ära Hartz eine Lebenshaltung für unentbehrlich, die er sich bei den Vorständen aus der Industrie abgeschaut hatte. Der Ex-Betriebsratschef Volkert etwa kassierte dank Hartz’scher Boni und Sonderboni von 540000 Euro allein im Jahr 2002 ein Gehalt von knapp 700000 Euro. Seit 1990 hatte der gelernte Schlosser seinen Lohn mit Hilfe von Peter Hartz verzwölffacht. Er durfte Vertrauensspesen abrechnen, für die niemand Belege verlangte. Eine Geliebte von Volkert wurde auf Betriebskosten fürstlich bezahlt, insgesamt fielen 398806,33 Euro an. »I.0. Kostenstelle 1860«, notierte Hartz. Seine Kostenstelle. »Ich mache euch alle reich!«, ein Lieblingsspruch von Peter Hartz, bekommt in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung. Auch andere Betriebsräte erhielten einen persönlichen Leistungsbonus. Volkert und Hartz, sagt sein Adlatus Gebauer, hätten oft gemeinsam die Orte für internationale Betriebsratstreffen ausgesucht. Brüssel sei nicht in Frage gekommen, weil die Edelhuren bis morgens um vier Uhr in den Clubs gearbeitet hätten und dann müde gewesen seien. Also Brasilien. Oder Mexiko. Die Frage war nur: Zahlte das Werk vor Ort oder das Stammhaus in Wolfsburg? Und die Frauen daheim? Für sie gab es, seit Hartz bei VW anfing, häufiger ein Damenprogramm und sie konnten günstig Porzellan einkaufen. Haben sie gewusst, was da lief, haben sie weggeschaut, haben sie ihre eigene Wirklichkeit erfunden? Schusters Frau und Gebauers Frau ließen sich scheiden. Seit Mitte der Neunzigerjahre wusste Frau Schuster von den Bordell-Reisen in alle Welt. Die anderen Ehefrauen, sagt die ehemalige Frau Schuster, seien »naiv oder ignorant« gewesen. Hartz habe bei Treffen wie einer Begegnung am Gardasee aufgepasst, dass die Frauen nicht zu intensiv miteinander redeten. Er hat es immer verstanden, Leute für sich zu gewinnen, ist aber zugleich misstrauisch und von berstender Eitelkeit durchsetzt. Ich da oben – ihr da unten. Gebauer war ganz unten. Im VW-Verfahren hat er seinen Anwalt Wolfgang Kubicki mit der Frage genervt, wie denn der Stand sei. Kubicki hielt es für nötig, sehr drastische Begriffe zu wählen, damit Gebauer ihm folgen konnte. Als das Verfahren gegen Hartz begann, sagte Kubicki: »Jetzt ist Stalingrad.« Als Hartz sein Quasi-Geständnis ablegte, er-klärte der Kieler Anwalt: »Stellen Sie sich vor, es ist 1945, Führerhauptquartier. Der Führer hat sich umgebracht.« Natürlich wollte er den Saarländer nicht mit Hitler vergleichen, aber Gebauer verstand: Hartz, für ihn der Inbegriff der Allmacht, war auch nur ein Mensch. Generäle sagen nach verlorenen Schlachten gern, das Urteil über sie werde die Geschichte schreiben. So viel Zeit wird Hartz nicht bleiben. »Ich sehe heute klar, dass ich meine Pflichten damals verletzt habe«, hat er den Strafverfolgern gesagt. Das schlimmste Urteil für den Mann von der Saar könnte sein, dass er am Ende nicht nur der Arbeiterbewegung geschadet, sondern sie sogar verraten hat. Ein Büttel des Kapitals – das wollte Peter Hartz nie sein.