Der größte Feind der Verehrung ist die Entzauberung. Es gibt wenig, was so enttäuschend ist, wie der Moment, in dem ein hübsches Bild marodiert. »Enttäuschung« ist dabei ein so treffender Begriff, weil es um Täuschung geht und darum, wie sie aufgehoben wird. Man sieht etwas – und plötzlich ist es nicht mehr da. Nun ist das mit der Entzauberung im Falle von Lars Eidinger ein wenig komplizierter.
Vor fünf Jahren sah ich Lars Eidinger auf der Berlinale, zwischen Pressekonferenz und rotem Teppich. Er saß in einer Bar des Grand Hyatt Hotels und korrigierte hochkonzentriert ein Interview mit rotem Stift. Dabei trug er die Spange seiner Tochter im Haar und sagte, darauf angesprochen, das sei der Rebell in ihm. Rührend sah das aus, charmant fand ich es, unprätentiös wirkte er. Hach, Lars.
Lars Eidinger, das war für mich dieser kluge, so talentierte Bühnen- und Leinwandderwisch, der in der ganzen Republik wie ein Popstar gefeiert wurde. Für den Angela Merkel ihren übervollen Terminkalender dehnt, um ihm in der Berliner Schaubühne zuerst als Richard III und zwei Wochen später als Hamlet an den Lippen zu hängen. Ich verehrte ihn vor allem wegen seiner leisen, behutsamen Rollen, wie die in dem Familiendrama »Was bleibt«, in der er an der Seite von Corinna Harfouch brilliert. Gar nicht viel tun und trotzdem so dermaßen präsent sein – was für eine Gabe. Wenn ihm im Spiel die Tränen kamen, konnte ich nicht viel tun, meine Tränen kamen mit.
»Eidingers Leben, eine einzige Performance«
Unter die Faszination für Lars Eidinger, der gerade 44 geworden ist, mischt sich bei mir aber zunehmend Irritation. Die Aufregung um seine 550 Euro teure Aldi-Taschenkollektion passt da nur ins Bild. Eidinger, der in einem Interview sagte, er habe »schon sehr viel Geld«, sei quasi überbezahlt, mit einem »richtig vollen Konto« und deshalb »richtig gut drauf«, benutzt die prekäre Existenz Obdachloser als Stilmittel, als anti-ästhetisches Zitat und verleiht ihm Kunstcharakter. Um das dann wiederum als lässiges Berlin-Mitte-Understatement unter ein gutsituiertes Publikum zu streuen. In seiner Kunst gehe es nicht um Moral, sagt Eidinger, sondern darum, zu zeigen, was ihn beschäftige: »Das ist die Welt, in der ich lebe. Ich lebe in dem Widerspruch, dass ich privilegiert bin und jeden Tag auf dem Weg durch die Stadt Menschen in Not sehe.«
Nun ist es so: Lars Eidinger darf so viele Modeaccessoires entwerfen und zu fantastischen Preisen auf den Markt bringen, wie er möchte. Er darf das auch Kunst nennen, schließlich wird die »LE 1 Mehrzwecktasche 14/01/20« in der Galerie Kuckei + Kuckei ausgestellt, nicht vom Schauspieler Lars Eidinger, sondern vom Künstler Lars Eidinger. Die Marke Eidinger vereint ja mittlerweile mehrere Geschäftsmodelle in Personalunion: Schauspieler, Designer, Künstler, DJ ist er auch, mit der Set-Reihe »Autistic Disco«. Fehlt nur noch, dass er nächste Woche einen neuen Podcast lanciert, den Larscast. Lars fürs Herz, fürs Auge – und nun endlich auch fürs Ohr. Maximale Omnipräsenz. In einer Talkshow sagte Lars Eidinger zu seiner Tausendsasserei, dass ihn sein Künstler-Sein zu einer reicheren Persönlichkeit mache, jeden Morgen wache er als ein Neuer auf, deshalb könne er heute eine Geschichte erzählen und am nächsten Tag eine andere – beide wären genauso wahr.
Ist das opportun? Schizophren? Surrealistisch? Eidinger nennt es »interessant«, weil es keiner Logik folge, und garniert diese Ausführung mit dem Siegel der »Glaubhaftigkeit«. Schauspieler-Kollege Harald Krassnitzer dachte diesen Gedanken weiter und beschrieb Eidinger als »personifizierte Installation«, als ein sich nie vollendendes 3D-Kunstwerk. Eidingers Leben, eine einzige Performance.
Was aber meine Entzauberung unaufhaltsam vorantreibt, ist die Mischung aus Überpräsenz, Hybris und Negativästhetik, die Lars Eidinger zelebriert wie kein zweiter. Negativästhetik geht so: Man wirft alles Schöne, Liebliche, Normative, Gewöhnliche ab, zugunsten des Grotesken, Absurden, Skurrilen, und überhöht das dann am besten noch mit dem Schlagwort Authentizität. Denn: Man ist eher geneigt, von der hübschen Fassade gelangweilt zu werden als von dem schwankenden, spielerischen, spannungsgeladenen Charakter, der Mut zur Fratze beweist.
Vielleicht will sich Eidinger genau deshalb so unbedingt zum Mister Universum des Ugly-Instagram-Kosmos küren. Mit Böse-Buben-Grills auf den Zähnen, Glitzeraufklebern auf dem verschwitzten Gesicht, sich schmerzhaft verausgabend, mit Oktopus im Mund und Babymaiskolben in der Nase als Deichkind-Maskottchen. Dabei sehr häufig sehr nackt.
Lars Eidinger zersetzt mit Verve das Bild des attraktiven, gediegenen Schauspielers, um an dessen Stelle eine Kunstfigur zu heben. Die verehrt zwar Thomas Brasch und verliert sich in Yves Kleins »Monochromen Blau«, gebiert sich aber gleichzeitig als pathologischer Exhibitionist. Scham gibt es nicht mehr, nur noch Provokation und Koketterie mit der Provokation.
»Wo mich Exzentrik früher noch anzog, strengt sie mich heute an«
Bei dieser »manischen Selbstentäußerung«, die sich Eidinger immerhin selbst attestiert, gibt er Dinge von sich Preis, die ich nie wissen wollte. Dass er sich einmal am Tag googelt. Dass er einen zwar wohl sehr schönen, aber eher kleinen Blutpenis hat, wegen dem ihm häufig schwindlig wird, wenn er erigiert. Dass er sich nach dem Toilettengang immer über der Badewanne abbrausen musste, weil sein Po nun mal haarig ist, bis er sich eine japanische Toilette mit entsprechenden Features anschaffte. Dass sich Knacker besser eignen als Wiener, um sie sich in den Anus einzuführen. – Ich habe es dann doch lieber subtil. So ähnlich, wie ich in einer Beziehung die Badezimmertür schließe, um die erotische Spannung aufrechtzuerhalten, möchte ich von Menschen, die ich bewundere, manches lieber im Dunkeln belassen.
Und genau hier liegt das Problem, das symptomatisch ist für die neue Generation aus Selbstdarstellern. Nur weil Lars Eidinger in einem Anflug von unbedingtem Gesamtkunstwerkswillen unter die Designer, Fotografen und DJs geht (gottbewahre, auch noch unter die Podcaster!), ist er deswegen kein weniger genialer Schauspieler. Aber einer, dem ich nicht mehr gerne zusehe. Über den ich mich nicht mehr freue, wenn er mir begegnet. Weil ich zu viel sehe. Zu viel Lars. Ich bin übersättigt. Ich sehe Lars Eidinger als Bertolt Brecht und denke an Bertolt Brecht, wie er mit einem Würstchen an seinem Hintern hantiert.
Vielleicht sagt meine zunehmende Distanzierung auch mehr über mich aus als über Eidinger. Wo mich Exzentrik früher noch anzog, strengt sie mich heute an. Womit wir beim Narziss-Mythos angekommen wären, über den schönen Sohn eines Flussgottes und einer Nymphe, der seiner Schönheit so verfallen war, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. »Wir leben im Zeitalter des Narzissmus«, resümiert Eidinger, »ich kann doch nicht so tun, als wäre ich frei davon.« Aber müssen wir uns deshalb nun alle in exzessive Selbstverliebtheit hineinsteigern, nur weil es der Zeitgeist empfiehlt? Wäre es nicht eher die Chance, morgens wieder demütiger aufzustehen, bevor man droht, an seiner eigenen Brillanz zu ersaufen? Narziss ist es nicht gelungen. Bei Ovid schmachtet er sich so lange selber an, bis Echo seine letzten Worte wiederholt: „Ach, du hoffnungslos geliebter Knabe, lebe wohl!“ Dem schließe ich mich bis auf Weiteres an.