Angst-Störung

Die Deutschen fürchten sich gern davor, dass die Zukunft weniger schön wird als die Gegenwart. Axel Hacke hat die Angst durchschaut – er fürchtet sich vor etwas ganz anderem. 

Als Ergebnis einer großen Umfrage unter den Deutschen wurde bekanntgegeben, die German Angst sei zurückgekehrt. Was war das noch mal, German Angst? Darunter sei, sagte der Leiter der Untersuchung der Welt zufolge, das Phänomen zu verstehen, dass die Deutschen schon immer Sorge hatten, die Zukunft werde nicht so positiv sein wie die Gegenwart. Des Weiteren las ich: »Durch alle Gesellschaftsschichten hindurch zieht sich eine Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Volksvertretern.«

Das verstehe ich nicht. Wer Angst davor hat, er könnte es in Zukunft nicht so schön haben wie jetzt, der ist ja offensichtlich wenigstens zufrieden mit seiner Gegenwart. Und wenn die so weit in Ordnung zu sein scheint, dann ist das vielleicht sein Verdienst, auch das des Unternehmens, in dem er arbeitet, das seiner Familie und seines Sportvereins. Aber irgendwas muss es doch auch mit den »gegenwärtigen Volksvertretern« zu tun haben.

Werfen wir einen Blick auf »gegenwärtige Volksvertreter« in einigen anderen Staaten.

Meistgelesen diese Woche:

In Frankreich haben sie einen Präsidenten, der an der miserablen Lage des Landes trotz großer Versprechungen nichts geändert hat.

Sein Opponent ist sein Vorgänger, der viel dazu beigetragen hat, die miserable Lage herbeizuführen; schärfste Gegnerin der beiden ist eine Frau, deren Politik die miserable Lage des Landes in ein Desaster des gesamten Kontinents verwandeln würde.

In Italien sieht sich ein respektabler Ministerpräsident einer politischen Kaste gegenüber, die sich unaufhörlich am eigenen Land bereichert. Ein Vorgänger wurde wegen Steuerbetrugs verurteilt und entging der Haft nur wegen seines fortgeschrittenen Alters.

Ungarn wird von einem Mann geführt, der die Medien an jeder Kritik der »gegenwärtigen Volksvertreter« zu hindern sucht. In Polen begibt man sich auf den gleichen Weg. In der Türkei ist man schon lange darauf unterwegs.

In den USA werden die Schlagzeilen von einem Immobilienunternehmer beherrscht, dem man in erster Linie einen besseren Friseur und einen verständnisvollen Therapeuten wünscht. Sehr gelobt wird dieser Mensch vom russischen Präsidenten, in dessen Land die Bevölkerung mit der Angst vor der Gegenwart so beschäftigt ist, dass von Zukunft keine Rede mehr ist.

So ist das in der Welt. Aber in Deutschland zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten eine Unzufriedenheit mit den »gegenwärtigen Volksvertretern«. Warum nur? Verdienen Politiker zu viel? In Italien bekommt ein Abgeordneter mehr Geld als ein Bundesminister in Deutschland. Arbeiten sie zu wenig? Bei der Bundeskanzlerin war ein Beckenbruch vonnöten, um sie ein paar Tage vom Büro fernzuhalten. Sind sie nicht ehrlich genug? Es hat schon Rücktritte wegen dienstlich erworbener, aber privat genutzter Bonusmeilen gegeben, von gefälschten Doktorarbeiten zu schweigen. Machen sie die falsche Politik? Könnte sein. Aber steht es hier nicht jedem frei, sich politisch zu engagieren?

Ja, bloß ist die Arbeit eines Politikers eben sehr mühsam. Man verbringt seine Abende in der sauerstoffarmen Luft von Hinter- und Sitzungszimmern. Bis man an der Wirklichkeit nur ein bisschen geändert hat, gehen Jahre ins Land. Es ist niemandem vorzuwerfen, dass er daran keinen Spaß hat. Sehr viele Deutsche verwenden ihre freie Zeit, um Flüchtlingen zu helfen, das ist nicht weniger anstrengend, aber sicher befriedigender und sowieso tausend Mal besser, als auf Facebook große Sprüche zu klopfen. Die Wahrheit ist: Die meisten von uns haben keine Lust, Politiker zu sein, viele sind ja sogar zu bequem, zur Wahl zu gehen. Warum auch? Es gibt doch die »gegenwärtigen Volksvertreter«, auf denen man diffusen Missmut, Unlust und German Angst abladen kann, ohne dass auch nur ein einziger von denen endlich ein wenig mehr Respekt verlangen würde und riefe, er sei, ganz nebenbei, bisweilen auch ein wenig unzufrieden mit dem gegenwärtigen Volk.

Illustration: Dirk Schmidt