Ältere Menschen erinnern sich an jene beschaulichen Zeiten, in denen der Tag ein vorläufiges Ende fand, wenn er in die Tagesschau mündete: Aufs Sofa gebreitet nahm man Kenntnis vom gemächlichen Gang des Weltgeschehens, von Tarifverhandlungen zum Beispiel zwischen den Vertretern der »öffentlichen Hand« und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr ÖTV in Person ihres äußerst umfangreichen Vorsitzenden Kluncker. Möglicherweise war auch von einem Putsch in Uganda die Rede, vielleicht von Verheerungen eines Wirbelsturms in der Karibik, damals für die meisten ein unerreichbarer Ort.
Danach das Wetter von morgen.
Wenig haben wir aus jenen weltfernen Jahren in unsere Zeit herüberretten können, in denen an einem Tag so viel zu geschehen scheint wie früher in Jahren nicht. In denen ein Gauner die USA regiert, Nazis morden und mancher sich wahrhaftig vor dem Weltuntergang fürchtet. Im Grunde ist uns aus den alten Zeiten lediglich die SPD geblieben. Nur von ihr geht etwas von jener wohligen Schläfrigkeit aus, die wir damals nicht genug schätzten, weil wir sie selbstverständlich fanden, die wir heute aber herbeisehnen. Denn so ist es doch: Taucht in den Weltmitteilungen eine Information zur SPD auf, zu ihrer kein Ende nehmenden Kür neuer Parteichefs, sinkt der Blutdruck, und Adrenalin zieht sich in die vorgesehenen Körpernischen zurück.
Mag da draußen geschehen, was will: Unsere liebe gute SPD ist mit sich beschäftigt. Sie braucht ja immer gerade neue Vorsitzende, irgendwer hat stets gerade die Verantwortung für vergangene Niederlagen übernommen und ist zurückgetreten, irgendjemand ist immerzu bloß kommissarisch im Amt und muss durch eine dauerhaft tragfähige Lösung ersetzt werden. Im Rahmen dieser Suche muss dann wieder mal prinzipiell geklärt werden, wie und was und wer die SPD sein will und welcher Zukunft sie sich auf wie geartete Weise zuwendet. Klimawandel, Energiewende, starke Daseinsfürsorge, öffentliche Sicherheit, also die Sicherung unserer Lebensgrundlagen, eine Gemeinwohl-orientierte Ökonomie, darum gehe es, hat die Bundestagsabgeordnete Nina Scheer gesagt, »das sind Gerechtigkeitsfragen, das müssen wir sozialdemokratisch durchbuchstabieren«.
Die Welt stürzt ein, die SPD buchstabiert das in Ruhe durch, sozialdemokratisch natürlich.
Übrigens gehörte Frau Scheer zu denen, die für den SPD-Vorsitz kandidierten. Sie ist aber nach der ersten Befragung der Mitglieder schon wieder aus dem Spiel, so hat sich mancher den Namen nie gemerkt. Der Prozess der Vorsitzendenfindung zieht sich seit Juni hin, seit Andrea Nahles zurücktrat (die auch nur ein gutes Jahr lang im Amt gewesen war und Martin Schulz abgelöst hatte, der seinerseits nicht mal zwölf Monate lang Vorsitzender gewesen war).
Wenn alles gut geht, wird die Partei im Dezember nach knapp einem halben Jahr – gefüllt mit 23 Regionalkonferenzen, zwei Mitgliederbefragungen und so weiter – gleich zwei neue Vorsitzende haben, deren Namen man sich vielleicht mal einprägen könnte. Die Neuen können sich dann mit Getöse ins Geschehen werfen, bis sie die ersten, unausweichlichen Niederlagen zu verantworten haben, die damit zu tun haben werden, dass niemand mehr weiß, wofür die SPD eigentlich steht, außer für große innerparteiliche Demokratie. Und bis sie dann eben zurücktreten, worauf vermutlich ein weiteres halbes Jahr voller kommissarischer Amtsinhaberinnen, Regionalkonferenzen, Befragungen und Parteitage folgt, was denn sonst?
Wir werden ihn noch ein Weilchen behalten, den täglichen Moment der Schläfrigkeit, dieses Das-ist-ja-wie-früher-Gefühl, wenn in den Nachrichten die SPD auftaucht, die sich selbst buchstabiert und damit wohl nicht mehr aufhören wird – solange es sie eben ein kleines und leider immer kleiner werdendes bisschen gibt.