Vor dem Einschlafen würde ich Sophie gern das Buch von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer vorlesen, aber das interessiert sie nicht. Fünf Anläufe habe ich genommen, nie sind wir übers erste Kapitel hinausgekommen. Fünf Mal trug ich ihr die Geschichte vor von König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften und seinen Untertanen Lukas, Herrn Ärmel und Frau Waas auf der Insel Lummerland mitten im Ozean - und immer hat Sophie gesagt, nein, interessiere sie nicht, das zweite Kapitel wolle sie nicht hören. Ich weiß nicht, was ist mit ihr, vielleicht ist sie zu klein.
Nun lese ich hier einen Artikel über Conrad Glass, der Polizist auf der entlegensten von Menschen besiedelten Insel der Welt ist. Sie heißt Tristan da Cunha und liegt mitten im südlichen Atlantik, unweit von St. Helena, wo Napoleon starb. 270 Menschen leben hier, sie heißen mit Nachnamen entweder Green, Hagan, Lavarello, Repetto, Rogers, Swain oder eben Glass, wie Conrad, der Polizist, dessen Vorgänger Glass hieß und sein Vorvorgänger auch. Nur die Vorvorvorgängerin hieß Green, dafür war der Name des Vorvorvorvorgängers Glass gewesen.
Conrad Glass trägt Uniform, Handschellen, Knüppel und Pfefferspray. Gelegentlich nimmt er an der einzigen Straßenkreuzung Verkehrskontrollen vor, aber er hat in 22 Dienstjahren keinen einzigen Menschen verhaftet. Auf Tristan Lummerland da Cunha gibt es kein Verbrechen. Aber man stellt sich doch vor, dass ein Polizistenleben seine Vollendung nur in wenigstens einer einzigen kleinen zumindest vorläufigen Festnahme finden kann, oder? Mich überkommt kaum zu stillende Sehnsucht nach Tristan da Cunha. Doch gibt es keinen Flughafen dort. Und nur einmal im Jahr kam früher ein Postschiff vorbei, seit Jahren gar nicht mehr, bloß Frachter und Fischer, kein Postschiff.
Ähnliche Melancholie empfand ich in letzter Zeit nur, als ich den Brief des Ehepaares P. aus Karlsbad las, das am 8. Dezember ein Weihnachtspaket mit drei handgenähten Teddybären und drei selbst gebackenen Linzer Torten Richtung Glashütte in Sachsen schickte, wo das Paket allerdings erst am 30. Dezember eintraf. Was aber war in der Zwischenzeit mit ihm geschehen?
Das kann man heute im Internet herausbekommen. Man ruft eine Seite der Post auf, gibt eine Nummer ein, schon sieht man, wo die Sendung sich befindet. Im Falle des Paketes der P.s liest man zunächst »Der Kunde hat die Sendung in der Filiale/Agentur eingeliefert«, schon drei Stunden später aber: »Die Sendung wurde im Zustell-Paketzentrum bearbeitet«, eine unfassbar kurze Zeit: von Karlsbad bei Karlsruhe nach Glashütte in Sachsen in drei Stunden, das schafft mit seinem schnellsten Auto nicht mal Old Schumacher, um wie viel weniger drei Teddybären in Begleitung dreier Linzer Torten! Was geschah nun?
24 Stunden später hieß es: »Die Sendung wurde im Zustell-
Paketzentrum bearbeitet.« Weitere 24 Stunden darauf noch mal: »Die Sendung wurde im Zustell-Paketzentrum bearbeitet«, einen weiteren Tag danach jedoch: »Die Sendung wurde im Einlieferungs-Paketzentrum bearbeitet.« Zurück in Baden-Württemberg! Dort fünf Bearbeitungen in fünf Tagen, dann fand sich die Sendung im Zustell-Paketzentrum wieder. Fünf »Weiterleitungen« folgten, darauf zehn Tage später eine Bearbeitung, nun jedoch im Einlieferungs-Paketzentrum, von wo ...Schluss! Zustellung, wie gesagt, am 30. Dezember, nach 22 Tagen. Keine Vorwürfe an die Post! So was kommt vor. Aber es ist faszinierend, wie ausufernd heute das Nichts dokumentiert werden kann und wie im Internet, dem Medium größter Schnelligkeit, intensivste Langsamkeit ihren Platz findet. Wie noch das Schicksal des kleinsten Paketes heute jederzeit nachvollziehbar wird, liebevoll dokumentiert.
Werde ich Sophie je das zweite Kapitel von Jim Knopf vorlesen können? Es beginnt mit dem Satz: »Eines schönen Tages legte das Postschiff am Strand von Lummerland an und der Briefträger sprang mit einem großen Paket unter dem Arm an Land.«