Ich wollte Die Mutter des Erfolgs lesen, von Amy Chua, das ist die amerikanische Mutter, deren Familie aus China stammt und die beschlossen hatte, ihren Kindern das Siegen sowie das sehr gute Klavierspielen und die Beherrschung der Geige beizubringen und ihnen drohte, wenn sie nicht übten, werde sie ihre Plüschtiere verbrennen. Aber Bruno, mein alter Freund, sagte, ich solle vorher das etwas ältere Buch Musik ist meine Sprache zur Hand nehmen, die Autobiografie des chinesischen Pianisten Lang Lang. Ich hatte nicht vor, das wirklich zu lesen, blätterte darin herum, las mich fest – und ehe ich mich versah, hatte ich es in drei Stunden verschlungen, ein unglaubliches Buch, keineswegs nur über die Liebe zur Musik, sondern über die Kompliziertheit der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in einem uns fremden Land, über die Sehnsucht nach einem besseren Leben und nach der Liebe, die einem nur Eltern geben können.
Das Buch schildert das Leben eines sehr begabten Kindes mit dem fanatischsten Vater, den man sich vorstellen kann. Dieser Vater gibt den Beruf als Polizist in Shenyang auf, um mit seinem Sohn nach Peking zu ziehen. Der Sohn soll, so will es der Vater, »Nummer eins« der Klavierspieler werden. Die beiden lassen die Frau und über alles geliebte Mutter zurück, damit sie das Geld verdient, das beide in Peking brauchen, leben in einer miserablen Wohnung, essen scheußliche Mahlzeiten. Der Vater kümmert sich nur um die Ausbildung des Sohnes. Der muss üben, üben, üben, tagaus, tagein, immer im Schatten stets neuer bevorstehender Prüfungen, immer unter Aufsicht des kalten, unbarmherzigen, indes total überforderten Vatertyrannen.
Der verliert eines Tages, als der Sohn zu spät zum Üben kommt, die Nerven, versucht, ihn mit Tabletten zu vergiften, schreit, als der Kleine auf den Balkon flüchtet: »Spring und stirb!« Und klappt zusammen, als der Sohn verzweifelt versucht, sich die Hände zu brechen, ein schluchzender Mann, während das Kind, unter Tränen, »Ich hasse dich!« schreit und schwört, nie wieder ein Klavier anzurühren. Dabei bleibt es nicht, wir wissen das. Es kommt der Tag der Aufnahmeprüfung am Konservatorium, von 3000 Kindern werden nur zwölf genommen. Aber nicht einmal ein Platz unter den ersten zwölf würde dem Jungen genügen. Nur die ersten sieben bekommen ein Stipendium, ohne das für die Familie an ein Studium nicht zu denken ist. Der Tag der Prüfung ist der wichtigste im Leben des Schülers Lang Lang, alles lastet darauf, die Erwartungen der Familie, ihre materiellen Opfer. Der Junge kann nicht schlafen in der Nacht vorher. Da sagt der Vater – und man ist wie vom Donner gerührt nach allem Vorherigen: »Komm zu mir ins Bett. Schlaf neben mir!« Der Sohn kriecht neben ihn, er bittet den Alten, seinen Arm um ihn zu legen. »Im Arm meines Vaters konnte ich den Aufruhr in meinem Kopf abschalten, die Augen schließen und Ruhe finden. In jener Nacht schlief ich wie ein Baby.« Am nächsten Tag besteht er, als Nummer eins.
Ich habe gelesen, es gebe in China zwanzig Millionen junge Klavierschüler. Damit scheint mir die pianistische Grundversorgung der Welt für die nächsten Jahrzehnte gesichert. Selbst wenn überall sonst auf der Welt alle Klavierschulen ihre Pforten schlössen: China wäre in der Lage, sämtliche Konzertsäle, Hotelbars und notfalls Jazzclubs mit Pianoplayern auszustatten, von der Menge her. Was ich jetzt gern lesen würde: die Geschichte jenes Jungen, der genauso arme Eltern wie Lang Lang hat, einen ehrgeizigen Vater und eine nicht minder geliebte Mutter – aber weniger Talent. Ich würde gerne die Geschichte der Nummer dreizehn bei der Aufnahmeprüfung am Konservatorium lesen, die Geschichte dessen, der große Entbehrungen auf sich nahm, für den es dann nicht reichte, der als Klavierlehrer arbeitet oder nicht einmal das, dessen Eltern unglücklich sind, weil er gescheitert ist, und der selbst depressiv ist, weil er seine Eltern nicht glücklich machen konnte. Aber diese Geschichte wird nicht geschrieben.
Stattdessen: Amy Chua. Das habe ich auch gelesen, dazu bald mehr, na ja, vielleicht.
Illustration: Dirk Schmidt