Als ich ein kleiner Junge war, las ich Bücher von Karl May, Astrid Lindgren und Enid Blyton, vor allem aber las ich Michael Endes Bücher über Jim Knopf und Lukas, den Lokomotivführer, die gemeinsam nach China reisen, das Land der durchsichtigen Bäume und der Porzellanbrücken, in dem überall der feine Klang winziger Glocken zu vernehmen ist, Heimat des Oberbonzen Pi Pa Po, des Oberhofkochs Schu Fu Lu Pi Plu und der Prinzessin Li Si. Nun bin ich groß, ich lese Bücher von Philip Roth, Cormac McCarthy und Donald E. Westlake, vor allem aber habe ich das Buch Die Mutter des Erfolgs von Amy Chua gelesen, deren Eltern in China geboren wurden, die aber mit ihrem Mann und zwei Töchtern in New Haven/USA lebt.
Chua beschreibt, wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte, sie nennt sich selbst, obwohl sie keine Chinesin mehr ist, »eine chinesische Mutter«, was bedeutet: Hausaufgaben stehen an erster Stelle, Eins minus ist eine schlechte Note, die einzigen Kindern erlaubten Freizeitbeschäftigungen sind solche, die Medaillen eintragen – und diese Medaillen müssen aus Gold sein.
Die Frankfurter Allgemeine hat in einem sehr guten Artikel darauf hingewiesen, dass Amy Chua der Frau Mahlzahn in Michael Endes Werk ähnelt, oder sagen wir: dass ihre Methoden verwandt scheinen (denn Frau Mahlzahn ist ein magerer Drache mit nur einem Zahn, Amy Chua hingegen eine hübsche Frau Ende vierzig). Frau Mahlzahn, die, wenn ich mich recht entsinne, eine Schule betreibt, erklärt Prinzessin Li Si ihre Prinzipien folgendermaßen: »Sooooo, mein Kind. Mit Puppenspielen, Faulenzen, Spazierrrrengehen, Ferrrrrrien und all diesem Firrrrrlefanz ist es jetzzzzzzt ein für alle Mal vorrrrbei. Es wird höchchchste Zzzzzzeit, dassss du einmal den Errrnst des Lebens kennenlerrrrrrnst.« Amy Chua drillt ihre Töchter an Musikinstrumenten, droht mit Entzug von Plüschtieren und gibt ihnen Essen erst nach dem Üben.Scheußlich, nicht wahr?
Es ist nur mit manchen Büchern wie mit dem Scheinriesen Tur Tur in Michael Endes Buch. Er ist von Weitem riesengroß, niemand wagt, sich ihm zu nähern. Traut man sich aber, sieht man: Der Scheinriese ist in Wahrheit ein normaler Mann, bloß natürlich einsam. Liest man Amy Chuas Buch (und nicht nur die dramatischen Artikel darüber), erkennt man, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Drachen Mahlzahn und Mutter Chua gibt: Amy Chua liebt ihre Kinder und lässt sie das spüren. Sie albert mit ihnen herum, feiert Feste mit ihnen, ist ihnen nahe. Sie hat Humor, ist selbstironisch, beschreibt witzige Dialoge. Ihre Töchter sind keineswegs wehrlose Sklavinnen, aber: Von ihnen wird was verlangt, und das dringend. Übrigens gibt es im Buch auch einen Vater, der eine große Vorliebe für Spaziergänge, Speiseeis und Spaßbadbesuche hat. Und: Mami Chua gibt sich am Ende geschlagen, resigniert gegenüber einer größeren Energie. Ihre Tochter Lulu rebelliert gegen das Geigen – und setzt sich durch.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nicht viel mit Drill am Hut, das war nie mein Ding, auch neige ich dazu, den Wert von Schulnoten nicht zu überschätzen. Aber die Menschen sind verschieden, Hacke ist Hacke, Chua ist Chua, das ist ja das Schöne.
Jedoch: Wie albern, dieses Buch (wie ich gelesen habe) mit dem Film Das weiße Band zu vergleichen, in dem es um totalitäre Lieblosigkeit geht. Die Deutschen sortieren, wenn es um Erziehung geht, alles in Schubladen; sie hören »Disziplin« und denken »Kadavergehorsam«; sie vergessen, dass Umgang mit Kindern Zugewandtheit, Neugier voraussetzt, den Mut, Fehler zu machen und die Fähigkeit der Erwachsenen, sich selbst in Frage zu stellen; sie suchen nach Rezepten und Perfektion; sie vergessen, dass ein Buch zuerst eine Anregung ist, sich neu auseinanderzusetzen. Ist das ewige Lob, das viele von uns ihren Kindern für alles und jedes spenden, nicht oft Gleichgültigkeit, Faulheit, Feigheit – Ausweichen vor Auseinandersetzung? Im Übrigen sollte man aber jedem Kind einmal im Leben, mindestens, Jim Knopf vorgelesen haben.
Illustration: Dirk Schmidt