In Deutschland, las ich, gehen pro Jahr eine halbe Million Gegenstände verloren, sie werden liegen gelassen und vergessen, landen in Fundbüros. Die meisten von ihnen bleiben dort. Nur ein Drittel wird abgeholt, der Rest fällt der Fürsorge des Staates anheim. Das Zeug wird, glaube ich, versteigert oder schließlich weggeworfen.
Eine halbe Million Sachen! Nur in Deutschland. Auf Europa umgerechnet, sind das mehr als 4,5 Millionen Dinge im Jahr, das bedeutet, dass seit dem Krieg auf unserem Kontinent, über den Daumen gepeilt, 250 Millionen Gegenstände verloren gingen, 250 Millionen Dinge, nach denen gesucht wurde oder wird oder auch nicht. Ein Meer von Kram. Ein Gebirge von Zeug. Dabei habe ich eingerechnet, dass in den Jahren kurz nach dem Krieg nicht so viel irgendwo vergessen wurde, weil es nicht so viel gab. Die Bevölkerung ist gewachsen seitdem, die Wirtschaft auch, es gibt mehr Menschen, jeder einzelne Mensch hat mehr Gegenstände, er verliert schon mal den Überblick. Es geht auch prozentual gesehen mehr verloren als früher.
Im Rathaus von Berlin-Schöneberg ist im vergangenen Jahr eine signierte Udo-Jürgens-Statue abgeliefert worden. So was muss man erst mal besitzen! Und dann auch noch verlieren! Im nordrhein-westfälischen Menden wurde im April 2009 eine Gartenbank auf dem Fundamt abgegeben. »Schatz, hast du die Gartenbank gesehen? Ich habe sie eben noch gehabt, ich weiß genau …« Und in der Bestatterzeitung vom November 2011 lese ich, es sei sogar mal ein Sarg im Fundbüro gelandet, ohne Inhalt, aber immerhin. »Herrje, jetzt ist mein Sarg weg, ich glaub, ich hab ihn an der Kasse vom Tengelmann stehen lassen!« War es so? (Mit Inhalt wäre es der perfekte Mord: Täter gibt Leiche einfach als Fundsache ab …) Wäre ich Künstler, würde ich einen Berg von 250 Millionen Schlüsseltaschen, Portemonnaies, Brillen, Regenschirmen, Eheringen, Mobiltelefonen errichten und den Europäern sagen: Das gehörte euch! Erinnert ihr euch nicht!?
Bruno, mein alter Freund, der gerade viel Zeit beim Arzt verbringt, hat im Deutschen Ärzteblatt gelesen, die Rückfallrate von Rauchern, die Nikotinersatzprodukte wie Pflaster oder Lutschtabletten benutzten, sei genauso hoch wie die jener, die ohne sie versuchten, vom Rauchen loszukommen, das Zeug sei nutzlos – dies habe eine klinische Studie in Boston ergeben. Gleichzeitig liege aber das Ergebnis einer neurologischen Untersuchung aus Nashville/Tennessee vor: Nikotin wirke sich positiv auf das Langzeitgedächtnis von Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung aus.
Leichte kognitive Beeinträchtigung? Wer hätte die nicht, ruft Bruno! Er selbst habe kürzlich für einen Moment sogar den Namen seines jüngsten Sohnes vergessen, und eine schlimme Panikattacke gehabt, die sein Gedächtnis erst recht blockierte. Solle er zu rauchen beginnen? Ein Nikotinpflaster tragen? Darauf die Namen der Kinder notieren?
Im Ärzteblatt steht, dass vergessliche Nichtraucher zur Zielgruppe für Nikotinersatzprodukte werden könnten. Es gibt ja diesen Werbespot für Ginkgo-Extrakt, der angeblich gegen demenzielle Erscheinungen wirkt: Herr Braun begegnet einem Kollegen, der ihn als »Herr Braun« begrüßt, dessen Namen er seinerseits aber vergessen hat. Wenn die Tabakindustrie Werbung machen dürfte, würde sie sich die Studie aus Nashville zunutze machen: Herr Braun würde kurz in eine Raucherzone gehen, ein paar Züge inhalieren, dann den anderen mit Namen grüßen.
Übrigens habe das Ärzteblatt, sagt Bruno, letztes Jahr auch auf einen interessanten Moment in dem Werbefilm aufmerksam gemacht. Als sich nämlich die beiden Herren erneut treffen – diesmal nach Einnahme von Ginkgo durch Braun –, grüße der mit »Hallo, Herr Koch«, Koch aber rufe nicht mehr »Hallo, Herr Braun«, sondern sage nur »Hallo«. Hat, fragt die Fachzeitung, Koch nun Brauns Namen vergessen, weil Braun Ginkgo schluckte? Müsse man also die Begegnung mit Menschen, die Ginkgo einnehmen, meiden, weil die Begrüßung durch sie Gedächtnisschwund verursache?
Jedenfalls könnten sich die Herren dann gegenseitig auf dem Fundbüro abgeben.
Illustration: Dirk Schmidt