Das Beste aus aller Welt

Seit dem DFB-Pokalfinale fordern Schiedsrichter und Vereine wieder vermehrt die Torlinientechnik. Aber wollen wir wirklich immer Gewissheit? Unserem Kolumnisten würde dann die Nörgelei und Besserwisserei der Fans fehlen.

Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Tag für Tag häufen die Menschen neue Berge von Wissen an. Wir wissen so viel, wie nie eine Generation vor uns wusste.

Nun ein Wort zum Fußball. Der Fußball ist eine Art Humanlabor. Alles, was wir vom Menschen wissen, finden wir im Fußball wieder: das Gemeine, die Heimtücke, aber auch deren Überwindung durch eine Gemeinschaft und einen überraschenden Steilpass. Oder den banalen Alltag des Kampfes und dann wieder die Leichtigkeit des Spiels und den Irrsinn eines Fallrückzieher-Tores aus dreißig Metern.

Der Mensch schaut hier dem Menschen zu, er schaut auch den Schiedsrichtern zu, und, Achtung!, da ist ein erstaunliches Phänomen zu beobachten. Kürzlich begegnete ja im DFB-Pokalfinale der FC Bayern den Dortmunder Borussen. Der Dortmunder Hummels erzielte dabei ein Tor; jeder von uns sah, dass es ein Tor war – nur der Schiedsrichter erkannte es nicht, was ihm nicht anzukreiden war. Wir haben ein Fernsehbild, eine Wiederholung, eine Zeitlupe, er nicht, ja, mehr noch: Man könnte dem Schiedsrichter beim Erkennen der Wahrheit helfen, zum Beispiel mit Computerchips in den Bällen, die Schiedsrichter fordern das ja selbst, siehe Seite 40; doch verweigert sich der deutsche Fußball diesen Einrichtungen. Gelegentlich hört man nun, unsere Klubs wollten ihre Entscheidung überdenken, auch bei uns solle die Technik helfen, Fehler wie jene ungerechte Bestrafung der Dortmunder zu vermeiden. Bei der Weltmeisterschaft werde die moderne Tor-Erkenntnis ja auch zum Einsatz kommen.

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Doch ist dies unwahr.

Wahr ist vielmehr, dass der deutsche Fußball sich entschlossen hat, der tiefen Menschlichkeit, die im Nichtwissen liegt, zum Durchbruch zu verhelfen. Das Fehlerhafte gehöre nun einmal, so wird argumentiert, zum Fußball wie zum Menschen: Irgendwo müsse in diesen Zeiten doch noch alles sein wie früher! Entscheide erst der Computer über Tor oder Nicht-Tor, werde man ihn in Bälde auch bei Abseits, Aus und Foul zu Rate ziehen. Und über wen solle sich der deutsche Fußball-Zuschauer dann noch erregen, wen solle er beschimpfen? Welche Schiedsrichter könne er ans Telefon bitten, wie er es seit mehr als hundert Jahren gewöhnt ist, wem dürfe er in Chorälen noch mitteilen, er wisse, wo sein Auto steht? Seit Wembley 1966 sprechen wir über die Gültigkeit und Nicht-Gültigkeit von Toren, worüber hätten wir denn all die Jahre sonst reden sollen? Will man uns endgültig zum Schweigen bringen?

Deutschland mag eine Wissensgesellschaft sein, aber es ist auch eine Besserwisser-Gesellschaft. Enthält man dem Deutschen die Gelegenheit zum Besserwissen vor, nimmt man ihm alles. Verliehe man dem aktuellen Stand der Technik im Fußball Gültigkeit, verweigerte man dem Fußballfreund sogar die Möglichkeit, dies zu verlangen, weil es ja schon da wäre. Der Deutsche muss aber schimpfen können, er braucht einen Gegner, den er nach dem ersten Bier einen Idioten nennen kann, nach dem zweiten einen Volltrottel, nach dem dritten einen verschnarchten, geldgeilen Sesselfurzer. Und nach dem vierten? Das können wir nicht drucken.

Unsere Fußball-Funktionäre haben sich entschlossen, diese Rolle zu spielen. Jemand muss es tun. Irgendwer muss in Zeiten der Wissbegier dem Fehlerhaften und Ungewissen zur Geltung verhelfen.

Ist das übrigens nicht wahnsinnig luxuriös? Dass es einen Bereich gibt, wo man etwas einfach nicht wissen will? Obwohl man es wissen könnte, ja sogar weiß, weiß man es irgendwie trotzdem nicht. Ist nur im Fußball möglich!

Wissen ist Macht, aber Nichtwissen hat auch was.

Man hört, die deutsche Polizei wolle, dem Beispiel des Fußballs folgend, ihre Radargeräte verkaufen und in Zukunft Geschwindigkeiten mit bloßem Auge schätzen. Das ist gut. Einmal muss Schluss sein mit den Neuerungen. Man soll uns bestrafen, wie die Dortmunder bestraft wurden: hart, unfair und schwachsinnig. So, wie es früher war.

Illustration: Dirk Schmidt