Notizen aus den Ferien (III und Schluss): Ab und zu hat man ja das Gefühl, in der falschen Zeit zu leben. Zum Beispiel jetzt, hier, auf Capri.Vor vielen Jahren hatte ich Axel Munthes berühmtes Buch von San Michele gelesen, die Erinnerungen eines Mannes, der gleichzeitig Einsiedler und Society-Größe war, Charismatiker und Misanthrop, der als Arzt in Neapel während einer Cholera-Epidemie arbeitete und später in Rom als Modedoktor. Und der auf Capri in jenen Zeiten ein Haus baute, als Capri nur wenige kannten.Danach dachte ich: Nie werde ich nach Capri fahren, das Buch reicht mir, es kann nur schlechter geworden sein dort, durch den Tourismus. Aber möchtest du, dachte ich später, nicht doch einmal dieses Haus sehen? Und die Faraglioni? Die Blaue Grotte? Nein. Oder doch? Nein. Doch.Na, nun bin ich hier, in einer Wohnung oberhalb des Dorfes Capri, in der wir als Erstes die erstaunliche Erfahrung machen, dass es einen italienischen Ort gibt, auf den man abends um zehn hinabblicken kann, ohne auch nur ein Geräusch zu hören als das Rauschen des Windes. Keine motorini. Kein Hupen. Nicht der kleinste Verkehrslärm, woher auch?, es gibt im Ort keine Autos.Also sind wir doch in der richtigen Zeit? Am richtigen Ort? Nein, mit der falschen Zeit ist es so: Luis und ich wollen die Blaue Grotte besichtigen. Wir gehen zum Hafen und warten, bis wir in ein Boot steigen können, das uns dorthin bringt – während eine unun-terbrochene Schlange von Japanern durch den Hafen zieht, eifrig, eilig, ernst. Endlose Massen, ein Japanerstrom aus dem Nirgendwo. Gibt es einen Tunnel durch die Erdmitte, aus dem diese Menschen hervorkommen? Oder eine unterirdische Verbindung zwischen Venedig, Rothenburg und Capri? Jedenfalls fahren wir mit lauter Japanern zur Grotte, steigen dort in ein kleines Boot um, dessen italienischer Insasse uns hastig in die Grotte rudert, wo die Japaner lachen und kreischen, während wir für Sekunden erkennen: Das Wasser hier leuchtet blau – wutsch, sind wir wieder draußen. Und wissen mehr über reisende Japaner als über die Grotte.Oder. Wir wollen uns Munthes legendäres Haus ansehen, fahren nach Anacapri, wo man an einer viele hundert Meter langen Reihe von Andenkenbuden vorbeimarschiert, bevor man zur Villa kommt – die Munthe unter anderem hier baute, weil das Grundstück abseits lag. Weil er sich hier die Leute vom Hals halten konnte. Am Eingang sieht man mehrere Glocken nebeneinander und erfährt, dass hier die Bediensteten läuteten, wenn Besucher kamen – Munthe hörte am unterschiedlichen Klang, ob es angenehme oder nicht angenehme Menschen waren.»Ja, ja! Das kenne ich!«, ruft da der Luis. »So hat es Leonardo da Vinci auch gemacht.«»Woher weißt du das?«»Es steht in meinem Lustigen Taschenbuch.« Er blättert im Comic-Buch und zeigt eine Geschichte, in der Leonardo da Vinci von Micky und Goofy besucht wird. Leonardo erklärt darin sein Türglocken-System. Wenn jemand mit der Intensität X läute, werde ein Tuch von einem Käfig gezogen und der Singvogel darin kündige freundlichen Besuch an. Läute einer mit der Intensität Y, hebe sich ein Tuch von einem Rabenkäfig und der Rabe annonciere krächzend weniger nette Leute. Bei Übelgesinnten werde ein leerer Käfig abgedeckt – man höre nichts.Aber das nur nebenbei. Was die großen Sehenswürdigkeiten Capris angeht: Man ist zu spät dran in diesen Zeiten. Man liest nur in den Reiseführern, wie schön sie einmal waren – man sieht es nicht mehr.Nur manchmal, abends, wenn die Tagestouristen weg sind, dann kann man wenigstens ahnen, wie es einmal war. Wir wandern zur Villa Jovis, von der aus Tiberius mal das Römische Reich regierte, stehen zweihundert Meter über dem Meer, blicken nach Sorrent – und sind allein, und es ist still, und es ist unglaublich schön.Auf dem Rückweg kommen wir an einer Bar vorbei, da trinken Paola und ich je ein Bier und der Luis eine Limonade und die Sophie nuckelt an ihrer mitgebrachten Wasserflasche – das kostet vierzehn Euro, ich schwöre.Falsche Zeit? Richtige Zeit? Für die Capresen ist es die richtige Zeit. Früher wurden sie von den Normannen ausgeplündert, heute plündern sie die Normannen.
Illustration: Dirk Schmidt