Das Beste aus meinem Leben

Eine Zeit lang hatte man in München das Gefühl, wo immer ein Geschäft irgendeiner Art die Pforten schließe, werde alsbald ein Friseurladen eröffnet. Das war ein Trend, den ich aus keiner anderen deutschen Großstadt kannte: diese unglaubliche Gier nach Friseuren. Drogerien, Schraubenfachgeschäfte, Metzgereien, Reisebüros – alles wurde durch Friseure ersetzt, obwohl die Menschen in München ja nicht mehr Haare als anderswo haben. Aber sie lassen diese Haare anscheinend öfter waschen, schneiden, föhnen. Sie sind gepflegter.

Das war ein Trend, mit dem man leben konnte. Nichts, was man herbeigesehnt hätte, aber wenigstens etwas München-Spezifisches, etwas, das die anderen nicht hatten. Zu einer echten heimlichen Hauptstadt gehören nun einmal Friseure, sonst wäre es keine Haupt-Stadt. Aber diese Entwicklung ist gestoppt. Wer weiß, warum? Wir haben die maximale Friseurdichte erreicht, zwischen den Coiffeursalons finden sich nur noch einige Läden zur Deckung des notwendigsten Lebensbedarfs.

An die Stelle des Friseurtrends ist ein anderer getreten. Wo immer nun ein Geschäft geschlossen wird, eine Drogerie, ein Schraubenfachgeschäft, eine Metzgerei oder ein Reisebüro, da eröffnet eine Kaffeebude, ja, bereits müssen erste Haarsalons den Kaffeeschenken weichen, einem von diesen Läden, in denen sich Latte-macchiato-Mütter mit ihrem Stoff versorgen. In denen der Kaffee mit Milch small oder tall in Becher gegossen wird, auf die ein Deckel kommt – und mit diesem Deckelbecher in der Hand schlendern die Menschen dann durch die Straßen. (Wenn sie nicht eine Flasche in der Hand tragen! Eine der größten Ängste des Bürgers, des jungen zumal, scheint ja die Angst zu sein, mitten in der Stadt plötzlich und schlagartig zu verdursten, anders ist es nicht erklärlich, dass kaum noch jemand ohne Wasserflasche flanieren geht.)

Meistgelesen diese Woche:

Diese Kaffeebudenwelle – das ist das eine. Das andere aber ist, dass diese Mode, im Gegensatz zur Friseurkonjunktur vergangener Jahre, nicht auf München beschränkt ist, sondern bundesweiten, um nicht zu sagen: globalen Charakter hat. Es ist nichts München-Spezifisches. Es ist überall so. Die Erdkugel wird von einem engmaschigen Netz aus Kaffeetankstellen überzogen, überall saufen die Leute gierig schaumige Milch mit Kaffee drin, mit Ausnahme Italiens vielleicht, denn ich habe in meinem ganzen Leben noch nie, nie, nie einen Italiener oder eine Italienerin Latte macchiato trinken sehen, sie trinken Caffè und Caffè macchiato, Cappuccino und Cappuccione, aber Latte macchiato trinken nur Deutsche.

Anscheinend aber brauchen die Menschen in immer kürzeren Abständen eine Koffeinpeitsche, um ihren Tageslauf bewältigen zu können, sie werden von Koffein durchs Leben gejagt wie Rennpferde ums Geläuf. Man versteht es nicht. Die Leute haben doch bisher schon sehr viel Kaffee getrunken, wenn sie nun noch mehr und immer mehr trinken, wird unser ganzes Leben bald von Gereiztheit, Magenbeschwerden und Mundgeruch bestimmt sein, ja, die durch Rauchergesetze gerade verbesserte Volksgesundheit wird durch Kaffee aufs Neue bedroht. Ein Gesetz wird vorschreiben, Kaffee nur noch im Freien zu trinken, was aber nichts nützen wird, weil Kaffeebudenkaffee ohnehin schon im Wesentlichen auf der Straße getrunken wird.

Und München macht da mit. Unsere Stadt, die doch immer etwas Besonderes war, hat auf einmal die gleichen Kaffeebuden wie Hannover, Husum und Helsinki. Sie wird austauschbar, verwechselbar, verliert ihr Eigenes. Man sieht den Tag kommen, an dem erste Biergärten durch Latte-macchiato-Gärten ersetzt werden, an dem aus Paulaner ein Kaffeesudhaus wird – ja, an dem in Oktoberfestzelten Menschen in großen Zelten mit langen Löffeln in Kaffeegläsern stochern. Der Milchschaum wird den Bierschaum ersetzen, die Leute werden, von der Wiesn kommend, zitternd und nervös nach Hause eilen, um schlaflos die Nächte zu durchwachen. Und dort, wo die Münchner einst Maßkrüge auf den wohlfrisierten Häuptern ihrer Banknachbarn zerschlugen, wird man seinen Nächsten nun mit unsicher geworfenen Kaffeebechern verfehlen. Unser ganzes, seit 850 Jahren von so schönen Traditionen bestimmtes Leben ist bedroht, sieht das denn niemand außer mir?

Illustration: Dirk Schmidt