Lernen von Effe

In Alaska hat ein Zahnarzt auf dem Hoverboard stehend seiner Patientin einen Zahn gezogen. Für unseren Kolumnisten ist das ein Symbol unserer übermobilen Gesellschaft. Zur Orientierung in verwirrenden Zeiten empfiehlt er ein unvergessliches Zitat von Stefan Effenberg.  

Illustration: Dirk Schmidt

Seit Jahren geht mir ein Satz des früheren Fußballers Stefan Effenberg nicht aus dem Kopf, den er 2015 während eines Intermezzos als Trainer in Paderborn gesagt hat: »Wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten tut, fällt man um.« Immer wieder stelle ich mir vor, wie Effenberg verzweifelt versucht, den zweiten Schritt zu tun, ohne den ersten getan zu haben, wie sich dabei seine Beine ineinander verhaken und verknoten und wie Effenberg schließlich auf dem Boden liegt, sich aufrappelt und es erneut probiert. Dabei weiß jeder, dass es unmöglich ist, den zweiten vor dem ersten Schritt zu tun, es wird deshalb immer wieder vom Versuch abgeraten.

Ein zweiter Schritt ist ohne den ersten nicht denkbar, auch das Zweite Deutsche Fernsehen hieße nicht so, hätte es nicht bei seiner Gründung schon Das Erste gegeben. Wobei Das Erste wiederum, als es geschaffen wurde, noch gar nicht Das Erste hieß, denn es gab ja kein Zweites. Theoretisch hätte man das ZDF beim Start sogar Erstes Deutsches Fernsehen nennen können, EDF, weil es kein geschützter Titel war. Und Das Erste, das damals auf den Namen Deutsches Fernsehen hörte, hätte sich dann Zuerst Dagewesenes Fernsehen betiteln müssen, ZDF.

Das nur nebenbei.

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Mir fiel der Satz von Effenberg ein, als ich bei Associated Press las, in Anchorage/Alaska sei im Rahmen eines Betrugsprozesses gegen den Zahnarzt Seth Lookhart durch die Aussage einer Zeugin ans Licht gekommen, dass der Dentist ihr einen Zahn gezogen habe, während er auf einem Hoverboard stand, einem elektrisch betriebenen, zweirädrigen Brett. Damit bewegen sich Menschen fort – wenn sie nicht E-Roller, Skateboard, Rad, Auto, Mofa, Moped, Motorrad, U-Bahn, Tretroller, Elektrofahrrad, Tram, Bus, Taxi, Miet-Bike fahren oder zu Fuß gehen.

Dieser Lookhart muss irre sein, weil es aus medizinischer Sicht keinen Sinn ergibt, bei einer Zahnextraktion auf einem Hoverboard zu stehen. Doch habe er seine Sache ordentlich gemacht, sagte die Patientin. Trotzdem finde sie den Vorgang nicht in Ordnung, sondern »verrückt«. Irgendwie weicht mir dieses Bild nicht aus dem Schädel: ein hoverboardender Zahnarzt – das Symbol unserer übermobilen Gesellschaft, in der alle auf dem Sprung sind, heute hier, morgen dort, stets auf dem Weg vom ersten zum zweiten, dritten, vierten Schritt, ja, in dieser Moderne versucht man, all diese Schritte gleichzeitig zu gehen.

Niemand kann sich heutzutage noch leisten, nur eine Sache zu tun. Man telefoniert, während man an der Ladenkasse zahlt, liest auf dem Fitnessfahrrad oder kauft im Internet ein, während man Essen kocht. Ich sehe gerade meinen Zahnarzt vor mir, wie er mir ein Loch in einen Backenzahn bohrt: Ich sitze dabei auf einem Schlitten, er gleitet neben mir auf seinem Snowboard zu Tal. Oder wir beide fahren nebeneinander auf Fahr­rädern, der Mediziner betreibt den Bohrer mit seinem Dynamo, und damit er einen Zahn ziehen kann, trete ich auf die Bremse, er rauscht strampelnd davon, mein Kauwerkzeug in seiner Zange.

Ist es nicht doch möglich, den zweiten vor dem ersten Schritt zu tun, im Rückwärts­gehen nämlich? Man müsste im Vorwärtsgehen seine Schritte nummerieren, eins, zwei, drei, vier – und nun, im Zurückschreiten, jeden Schritt wieder exakt nach der Nummernfolge absolvieren, vorsichtig an Effenberg vorbei, der seine Beine sortiert wie ein gestrauchelter Tausendfüßler. Immer in Sorge, dass Doktor Lookhart einen mit dem Hoverboard überfährt, weil er gerade dem ersten Patienten schon den zweiten Zahn extrahiert hat und nun dem zweiten Patienten den ersten rausziehen will. Und stets im Wissen, dass Rückwärtsgehen heute so unmöglich ist wie Stehenbleiben, man würde von all den Vorwärtsdrängenden überrollt – und also umfallen.

Effenberg hatte recht.