Manchmal bekommt man Fragen gestellt, die man als seltsam empfindet, aber derjenige, der die Frage jeweils gestellt hat, findet sie normal. Erst dann merkt man, wie sehr man in seiner kleinen Welt vor sich hin lebt; man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass andere in diese Welt keinen Einblick haben und nicht wissen können …
Zum Beispiel fragte ein Herr in einer Diskussionsrunde, ob ich alles, was ich veröffentlichte, selbst schriebe. Ja, wer sonst!?, rief ich erstaunt. Ein Angestellter?, kam es zurück. Sofort stellte ich mir vor, wie ich mein Büro beträte, mir von meinem Angestellten die Texte des Tages vorlegen ließe, hier und da was verbesserte, sie abzeichnete, Anordnungen hinterließe und mich zum Nachdenken zurückzöge. Oder wie es wäre, ich hätte ein Schreiberheer zur Verfügung, Hundertschaften, über Tastaturen gebeugt, an meinem Werk arbeitend. Wäre das nicht großartig? Oder schrecklich, weil man bemerkt, dass da Leute sitzen, die alles besser können als ich? Was täte ich mit meinem riesigen Ego?
Jedenfalls, ich schreibe alles selbst.
Eine andere Frage, die oft auftaucht: wer anordne, was ich zu schreiben hätte. Ja, kürzlich las ich von einer kommunikations- wissenschaftlichen Studie der Universität Mainz, der zufolge 39 Prozent der Befragten glaubten: Journalisten müssen schreiben, was die Eigentümer der Medien, für die sie arbeiten, wollen. Ich konnte das kaum fassen, denn ich schreibe seit fast vierzig Jahren, früher für die Zeitung hier, später nur noch für ihr Magazin – und noch nie hat mir jemand gesagt, was ich schreiben soll. Ehrlich gesagt, habe ich im Moment nicht mehr den kompletten Durchblick, wem das Blatt eigentlich gehört. Ich wusste es mal, dann habe ich es vergessen. Ich sehe die Leute ja nie. Wahrscheinlich sind sie ganz okay.
Aber natürlich gibt es Menschen in der Redaktion, die mir auf die Finger schauen, mehrere. Man darf hier keine Fehler machen, und macht man doch einen, zack, sind sie da. Einmal habe ich das Wort Rhombenkubooktaeder benutzt, schon hatte ich eine Mail auf dem Schirm: Es heiße Rhombenkuboktaeder, nur ein o in der Mitte, bitte schön! Oder ich schrieb etwas über die Lebensgefährtin von Jannis Varoufakis, schon hieß es: Die beiden seien bereits verheiratet. Und Yanis, bitte! Nicht Jannis. Wenn ich jemanden zitiere, wollen sie Belege, glaubwürdige Internetseiten, Zeitungsartikel, Bücher, das volle Programm. Sie glauben mir nichts und gucken alles nach.
Mein Gott, ich lese immer von der Lügenpresse! Ich würde ja gerne mal lügen! Aber sie lassen mich nicht.
Einmal ist ihnen eine Sache durchgerutscht. Ich hatte mich über Würfelzucker geäußert, vor viereinhalb Jahren war das. Die meisten Packungen, auf denen Würfelzucker stehe, schrieb ich (und fand mich wahnsinnig schlau wegen dieser Beobachtung), enthielten gar keine Zuckerwürfel, sondern Zuckerquader, einen von ihnen hätte ich nachgemessen. Ich beschrieb dieses Zuckerstück so: »Es hat sechs Außenflächen, davon zwei große mit 1,5 mal 1,5 Zentimetern und vier kleine von 1 mal 1 Zentimeter.« Das war Unsinn, einen solchen Quader kann es nicht geben, seine Kantenlängen passen nicht zueinander. Doch niemand hatte den Fehler bemerkt.
Jedenfalls niemand in der Redaktion.
Die Leser schon. Es war mein Quadergate. Ich musste mich öffentlich korrigieren, bis heute beantworte ich Briefe zu dem Thema. Und ich benutze nur herzförmige Zuckerwürfel, äh, also, Zuckerstücke. Alles andere schmerzt zu sehr. Jeder Quader neben einer Tasse Kaffee ist ein Mahnmal meines Versagens.
Neulich habe ich gelesen, Donald Trump habe, in einer Fernsehsendung nach Beweisen für seine Behauptung gefragt, im November hätten drei Millionen Menschen ihre Stimmen illegal abgegeben, Trump also habe gesagt, er habe das von »vielen Menschen gehört«. Das würde hier keiner als Beleg akzeptieren. Aber hier geht's natürlich auch nicht darum, eine Weltmacht zu regieren. Es geht nur um eine kleine Magazinkolumne. Da muss man sich ein bisschen Mühe geben.
Illustration: Dirk Schmidt