Ein kurzer Streifzug durch die Zeitungen und Magazine der letzten Wochen: Der neue Roman von Wladimir Kaminer – »Kult«. Die Militärkomödie NVA von Leander Haußmann: »Hat das Zeug zum Kultfilm«. Harald Schmidt in der ARD: »Nach ein paar Monaten der Eingewöhnung schon längst wieder Kult«. Die Beständigkeit, mit der dieser Begriff inzwischen auf den Leser einprasselt, wird allein von einer anderen Kraft aufgewogen: dem Argwohn, den er bei der Lektüre auslöst. Doch was genau ist es, was dieses Attribut zur unerträglichsten Vokabel des Kulturbetriebs macht?Würde man das Wort einer archäologischen Analyse unterziehen, seine Verlagerungen von der religiösen über die politische hin zur kulturellen Sphäre nachzeichnen, stieße man auf die frühesten Spuren des gegenwärtigen Gebrauchs wohl im Zusammenhang mit Filmen, deren Aufführungen tatsächlich an ein spirituelles Ritual erinnerten: junge Kinogänger, die sich in Jeans und weißem T-Shirt »…denn sie wissen nicht, was sie tun« ansahen und jeden Satz James Deans mitsprechen konnten; kostümierte Zuschauer, die Woche für Woche in die »Rocky Horror Picture Show« pilgerten, um die Handlung zwischen den Stuhlreihen nachzuspielen. Die vermutlich in den siebziger Jahren aufgekommene Bezeichnung »Kultfilm« hatte ihre Genauigkeit eben darin, dass die Feier eines Kulturprodukts Merkmale der gemeinschaftlichen Heiligenverehrung aufwies. Irgendwann im letzten Vierteljahrhundert hat sich dieser Bezug zwischen dem Begriff und seiner Bedeutungstradition vollständig gelöst; dass etwas »Kult« sei, ist heute allgegenwärtiges Versatzstück von Zeitschriftenartikeln, Werbeanzeigen und Mensagesprächen. Das Wort sagt nichts mehr aus über eine konkrete Form der Rezeption, über eine gemeinschaftliche Verhaltensweise des Publikums, sondern markiert eine zunehmend diffuse Wertschätzung. Unter welchen Umständen wird das Prädikat »Kult« inzwischen vergeben? Womöglich könnte man weiterhin vage Kriterien aufstellen – das Unvorhergesehene des Erfolgs, die Irritation vertrauter Wahrnehmungsweisen, die besondere Intensität der Aufnahme. Die »Kult«-fähigen Erzeugnisse ließen sich etwa abgrenzen von Repräsentanten des Klassischen (wobei durch die entsprechenden Revivals und Relaunches auch das temperamentloseste Produkt plötzlich »Kult« werden kann). Doch jede Art von inhaltlicher Annäherung an den Begriff ist nicht das Entscheidende. Aufschlussreich ist vielmehr die Haltung des Sprechers: Wer ist derjenige, der den Auftritten Harald Schmidts, dem Kino Tarantinos, den Romanen Nick Hornbys oder den Fernsehsendungen Christian Ulmens »Kult« attestiert? Was ist seine Perspektive auf das, wovon er spricht? Zweifellos nicht die des leidenschaftlichen Verehrers selbst; niemand, dessen Leben ernsthaft berührt worden wäre durch ein Buch, einen Film, eine Figur, würde diese Erfahrung mit einem solchen Attribut behaften. »Kult« wird eher aus einer bestimmten Distanz heraus diagnostiziert und in dieser Distanz verbinden sich zwei Dinge: zum einen das Gespür dafür, was allgemein als interessant und als Indiz kultureller Geschmackssicherheit gilt, zum anderen aber das Unvermögen, dieses Interessante aus eigenen Stücken zu durchdringen.Wer »Kult« sagt, agiert als Trittbrettfahrer der kulturellen Meinungsbildung. Er gibt vor, dass er die Traditionen parat hat, die Zusammenhänge durchblickt; er braucht in seiner Rede nicht mehr zu tun als diese Wendung beiläufig einzustreuen, um Kennerschaft zu beanspruchen. In der Vokabel »Kult« verdichtet sich auch ein bestimmter Jargon der aktuellen Literatur- und Filmkritik: Es ist das Losungswort derer, die sich zwar in ihrem Milieu ausreichend umgetan haben, um jederzeit zu wissen, wo das Anregende, Neue, Verstörende zu orten ist, die durch ihren Sprachgebrauch dieses Verstörende und Neue aber gerade wieder eliminieren. Dass man sich den Romanen Hornbys inzwischen fast mit Verdruss nähert, dass man den Eindruck hat, einen Tarantino-Dialog zu viel gehört zu haben, ist in Wahrheit weniger eine Unzulänglichkeit dieser Werke selbst als ein Effekt fataler Lobpreisungen. Der Schicht um Schicht aufgetragene Anstrich »Kult« hat diese einstmals so lebendigen Bücher und Filme erstickt.