Nena ist 45, sieht aus wie 25 und hat eine Lebensgeschichte wie 65. In der Spannung zwischen einer immer noch jugendlichen Anmutung und einer zum Bersten angefüllten Biografie scheint das Geheimnis ihres Comebacks zu liegen, das sie im Augenblick wieder durch die größten Konzerthallen Deutschlands führt. Wer vor kurzem ihren Auftritt bei der Comet-Verleihung des Musiksenders Viva auf der Bühne erlebte, musste ein zweites Mal hinsehen: Mit den längeren, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren war sie endgültig nicht mehr von ihren ebenfalls nominierten Mitstreiterinnen der nachfolgenden Generation zu unterscheiden. Sekundenlang glaubte man allen Ernstes, die Sängerin der nach einem Nena-Song benannten Band Silbermond (Jahrgang 1984) auf dem Bildschirm zu sehen. Nenas Alterslosigkeit ist ein viel beschriebenes Phänomen. Es verbindet sich aber mit einer ebenso ungewöhnlichen Fülle an existenziellen biografischen Ereignissen: kurzzeitiger Herzstillstand bei der Geburt des ersten Sohnes; schwerste Behinderung dieses Sohnes, der im Alter von elf Monaten stirbt; in den Jahren darauf vier weitere Kinder. Die gerade erschienene Autobiografie Nenas, Willst du mit mir gehn, beginnt nicht umsonst mit dem in späteren Kapiteln mehrmals wiederholten Bekenntnis: »Ich bin immer wieder fasziniert davon, was so alles in ein einziges Leben reinpasst: Wie viele Geschichten, Menschen, Gefühle, Gedanken und Erlebnisse…« Die Selbstinszenierung eines Popstars Jahrzehnte nach seinen größten Erfolgen lässt gewöhnlich nur zwei Modelle zu: Den Hauptteil bilden diejenigen, die das Vergehen der Zeit nicht wahrhaben können, verzweifelte Ewigheutige, die mit kosmetischen und chirurgischen Mitteln jene spurlose Glätte des Gesichts aufrechtzuerhalten suchen, mit der sie einst begannen. Nur wenige entscheiden sich, diese Spuren nicht zu verbergen; sie stellen sich beinahe demonstrativ als würdevoll Gealterte dar, die auf ihre Anfangstage wie auf ein anderes Leben zurückblicken. Der Millionenerfolg des Jubiläumsalbums 20 Jahre – Nena feat. Nena von 2003, der auch mit der aktuellen Platte noch anhält, beruht auf einer eigentümlichen Synthese dieser beiden Modelle. Nena hat tatsächlich geschafft – mit welchen Rohkostdiäten und Yoga-Übungen auch immer –, wovon so viele ihrer Kollegen und Kolleginnen träumen: Die Zeit scheint ihrem Körper nichts anhaben zu können. Ihre heutigen Bühnenauftritte verströmen weiterhin die Atmosphäre juveniler Gegenwärtigkeit. Selbst die Präsentation der alten Nummer-eins-Hits beansprucht durch die vorgenommenen Neuarrangements und -instrumentierungen so etwas wie Zeitgenossenschaft. Gleichzeitig aber sorgt das Wissen um die Biografie Nenas beim Publikum dafür, dass diese Präsenz niemals als leere Anbiederung an die Gegenwart, als Verleugnung der eigenen Herkunft wahrgenommen wird. Die Schicksalsschläge waren zu fundamental, als dass die Sängerin jemals in den Verdacht der Oberflächlichkeit oder Künstlichkeit kommen würde; ihre Existenz wirkt für alle Zeiten authentisch. Auf diese Weise kann Nena gewöhnlich unvereinbare Welten zusammenführen und eine doppelte Sehnsucht befriedigen: den Glamour und die Tiefe, die Unbeschwertheit und die Nachdenklichkeit. Sie mag zwar wie einem Jungbrunnen entstiegen wirken, aber an dessen Rändern ist für alle Zeiten eine anrührende Lebensgeschichte eingeritzt. Nena strahlt am Anfang des 21. Jahrhunderts weder das Bemühen aus, einem längst vergangenen Erscheinungsbild entsprechen zu müssen, noch erinnern ihre Konzerte an die trostlose Nostalgiekulisse eines Revivals: Genau darin liegt vermutlich der Grund für ihre triumphale Rückkehr. An den Auftritten ist trotz Achtziger-Jahre-Konjunktur nichts historisch. Allenfalls einige Liedtexte wie der ihres größten Hits 99 Luftballons, geschrieben in Zeiten von NATO-Doppelbeschluss und atomarer Bedrohung, machen die Distanz eines knappen Vierteljahrhunderts für einen kurzen Moment spürbar.