Pirat

Der Pirat ist nur noch ein fröhlicher Ganove, Schrecken verbreitet heute der Terrorist.

Piraten sind heute noch immer allgegenwärtig, allerdings nur im folkloristischen oder übertragenen Sinn, als Bilderbuchfigur oder als Metapher. Dreihundert Jahre nach der Blütezeit ihres Auftretens ist die mit Augenbinde und Holzbein versehene Gestalt Emblem des romantischen Outlaws schlechthin. Sie dient zudem als Namenspatron für alle, die sich in einer ungreifbaren Sphäre der Gesetzesübertretung schuldig machen. »Luftpiraten«, »Produktpiraten«, »Netzpiraten« oder die Betreiber eines »Piratensenders« werden in die Tradition des Seeräubertums gestellt, weil ihr Betätigungsfeld ähnlich schwer zu markieren und zu überwachen ist wie das Meer.

Dass es aber auch weiterhin buchstäbliche Piraterie gibt, dass im Golf von Aden oder in der Straße von Malakka, zwischen Indonesien und Malaysia, Schiffe gekapert werden, ist so gut wie unbekannt. In Deutschland wird über diese brutalen Verbrechen ganz selten berichtet, in der Regel nur dann, wenn, wie letzte Woche vor Somalia, wieder einmal Landsleute von ihrer Yacht entführt werden. In den Zeitungsmeldungen ist dann immer von erstaunlichen Zahlen die Rede, die das »Piracy Reporting Center« in Kuala Lumpur sammelt: von mehreren offiziell gemeldeten Piratenüberfällen täglich und annähernd hundert Todesopfern pro Jahr. Die Wahrnehmung des Piraten hat sich, seit dem 19. Jahrhundert schon, in dem Maße verklärt und karnevalisiert, wie ihre tatsächlich anhaltenden Übergriffe aus dem Blickfeld verschwunden sind. Diese Entwicklung hängt zweifellos mit der Geschichte des Verkehrswesens zusammen. Schiff und Meer sind mit dem Siegeszug der Eisenbahn und endgültig durch Auto und Flugzeug aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gelangt. Und diese Nichtbeachtung schließt auch das spezifische Verbrechen des Meeres, das Seeräubertum, mit ein. Im 17. Jahrhundert wurde die Piraterie als derart umfassende Bedrohung angesehen, dass sie ein maßgeblicher Grund für die Einführung erster seerechtlicher Abkommen zwischen den Nationen war.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Piraten und Terroristen sind einander ziemlich ähnlich.)

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Heute haben die Seeräuber zwischen Afrika und Südostasien den Status regionaler Kleinganoven, deren Treiben man glaubt, vernachlässigen zu können. Für weltweite Erschütterungen und Zäsuren in der Rechtsgeschichte ist inzwischen eine andere Verbrecherfigur zuständig: der Terrorist. Während die rund 500 Schiffe, die Jahr für Jahr gekapert werden, in der Öffentlichkeit unerwähnt bleiben, ist jeder Versuch einer Flugzeugentführung Top-Nachricht und latente Bedrohung der Weltgemeinschaft. Dass von der gegenwärtigen Bestimmung des Terroristen aber eine ganze Reihe von Verbindungslinien zur Figur des Piraten führen, deutet nicht nur die Analogie des »Luftpiraten« an.

In der Tradition des internationalen Kampfes gegen die Piraterie, von Historikern als die erste Herausforderung des Völkerrechts bezeichnet, steht auch der heutige Zusammenschluss der Weltgemeinschaft gegen »Islamisten« und »Schurkenstaaten«. Die aktuellen Terroristen gelten auf ähnliche Weise als weltweit geächtete Feinde der menschlichen Zivilisation, bringen vergleichbare militärische Allianzen hervor. Wobei sie sich auch in ihrer wichtigsten Strategie vergleichen lassen: Der Literaturwissenschaftler und Piratenforscher Jörg Wiesel schreibt, dass die Taktik der Piraten immer von »Verkleidung und Maskerade« bestimmt war; sie segelten unter neutraler oder verbündeter Flagge, bevor sie in der Sekunde vor dem Angriff die »Jolly Roger« hissten.

Wenn man an die Rekonstruktion der Anschläge vom 11. September denkt - war es nicht gerade die perfekt ausgeprägte Mimikry der Terroristen, die immer hervorgehoben wurde, ihr unauffälliges Eindringen in die westliche Lebensweise? So gut hielten Mohammed Atta und die anderen ihre Absichten geheim, bis sie ins Innerste der Zivilisation, die hochgesicherten Kontrollbereiche der Flughäfen, eingedrungen waren. Im berühmten Bild der Überwachungskamera, frühmorgens am Flughafen von Boston, ist der verheerendste Piratenangriff der Gegenwart eingefasst.