Straßenmusiker

Für die Passanten, die an ihm vorübergehen, verkörpert der Mann sicher das Idealbild des Straßenmusikers: Er steht ganz ruhig da, wiegt den Oberkörper hin und her und spielt auf seinem Akkordeon. Neben ihm ein Kasten auf dem Kopfsteinpflaster, abgegriffener roter Samt, ein paar Münzen liegen darin. Ansonsten kein Ballast. Wenige Handgriffe, schon könnte er verschwunden sein, auf dem Weg zur nächsten Fußgängerzone, zur nächsten Stadt, zum nächsten Zwischenstopp auf seiner endlosen Reise. Wer sollte ihn daran hindern, heute Abend schon in Paris zu spielen, morgen auf der Strandpromenade von Nizza, übermorgen in Rom? Erzählt nicht sein Gesicht, wettergegerbt und zerfurcht, genau von dieser ganz großen Freiheit? Und symbolisiert nicht sein Aussehen – dieses zerzauste Haar, dieser wilde, fast stechende Blick aus blauen Augen – das Künstlertum in seiner reinsten Form?Vermutlich schon. Wer aber das Pech hat, nebenan bei offenem Fenster zu arbeiten, der weiß: Paris, Nizza und Rom sind rein theoretische Möglichkeiten. Er ist immer da. Und er spielt, mit seinem stets sehnsuchtsvollen und schwer tremolierenden Ton, immer dieselben Melodien. Manchmal beginnt er mit Somewhere Over The Rainbow, leitet dann zum Thema des Paten über und anschließend zu Summertime. Dann wieder beginnt er mit Summertime, lässt Somewhere Over The Rainbow folgen und endet mit Love Story. Gerade spielt er, schätzungsweise zum dritten Mal an diesem Vormittag, Lara’s Theme aus dem Film Doktor Schiwago. Gegen Mittag, das weiß man schon, wird er aufhören und verschwinden, aber dann beginnt ein Klarinettenspieler mit sehr ähnlichem Programm, erweitert um O Sole Mio und Besame Mucho. Die Hölle des Formatradios, in dem immer dieselben Hits laufen, ist nichts dagegen – wahrscheinlich waren es ehemalige Straßenmusiker, die das Formatradio überhaupt erst erfunden haben.Ganz allgemein ist es frappierend, wie sehr die hypothetisch so wilde und verantwortungsfreie Welt des Straßenkünstlertums tatsächlich zur Konformität neigt: Amerikaner mit Gitarre, die Bob-Dylan-Liedgut singen, tragen immer Cowboyhüte, sind grundsätzlich extrem hager und klingen ein wenig nach jaulenden Katzen. Mit Gold- oder Silberfarbe bemalte Pantomimen, die starr auf ihren Podesten stehen, sehen auf der Croisette von Cannes nicht anders aus als auf dem Hamburger Gänsemarkt, und von dem jungen Mann, der Passanten hinterherläuft und ihre Gangart imitiert, scheint es einen Klon in jeder größeren Stadt zu geben. Es kann auch passieren, dass Ponchotragende Panflöten-Indios gerade mit El Condor Pasa beginnen, wenn man eine Einkaufspassage betritt, während andere Poncho-tragende Panflöten-Indios das Lied gerade beenden, wenn man am gegen-überliegenden Ausgang wieder herauskommt. Wahrscheinlich werden sie von einer Atomzeituhr synchronisiert – und in Wahrheit muss jeder Straßenkünstler streng reglementierte Kostüm- und Programmlizenzen bei einem internationalen Konzern erwerben, der natürlich komplett im Verborgenen operiert.Neulich hörten wir wieder einmal die Poncho-tragende Panflöten-Formation Wayna Picchu in der Fußgängerzone. Laut dem Heft in ihrer CD King of the Andes, die wir zu Recherchezwecken erworben haben, stammen sie aus San Antonio, La Libertad, Peru, haben ihr aktuelles Hauptquartier aber im bayerischen Penzberg aufgeschlagen. Und plötzlich, während wir noch über das unveränderbare Prin-zip ihres Wirkens nachdachten, spielten sie Chan Chan – diesen kubanischen Superhit, das unausweichliche erste Lied aus dem Buena Vista Social Club. Das klang zwar keinen Deut frischer als El Condor Pasa – aber es war doch gleich ein Schimmer der Hoffnung: Wenn Poncho-tragende Indios zur Not so tun können, als wären sie Kubaner – dann ist in der Straßenmusik doch eigentlich alles möglich. Dann ist Raum für Innovationen, für gewagte und radikale Ideen vorhanden, dann warten wir eigentlich nur noch auf den großen und genialen Erneuerer dieses ganzen Berufsstandes, der die Vergangenheit einfach hinwegfegt – und bitte auch gleich den Akkordeonspieler vor meiner Tür, der gerade wieder mit La Paloma beginnt.