Zelt

Einst Symbol für Freiheit, jetzt an den Rändern der US-Metropolen auch für eine neue Armut.

Das Bild muss symbolisch für die Verschärfung der Krise herhalten, seit Wochen schon, und es löst in der Tat Beklemmung aus: Ein Streifen Ödland außerhalb des kalifornischen Sacramento, auf dem Hunderte von Campingzelten stehen, dazwischen Feuerstellen, Wäscheleinen, Müll. Im Hintergrund sieht man die Skyline der Stadt. Diese Behausungen und ihre Bewohner stehen für die Rückkehr der Großen Depression an den Rändern der Metropolen, die beherbergen die neuen Heimatlosen aus wirtschaftlicher Not, direkte Nachfahren der Hobos, Squatter, Wanderarbeiter aus den 1930er-Jahren. So bildwirksam ist diese Ansammlung von Zelten, dass immer neue Fernsehsender und Reporter dort Material für ihre Geschichten suchen. Sie finden vorbeidonnernde Züge, tätowierte Männer, verwahrloste Frauen. »Der Bauch einer Ginflasche ragt kopfüber aus dem Sand«, sozialkolorierte der Spiegel, »aus einem offenen Zelt ist rasselndes Husten zu hören.«

In hartem Kontrast dazu agierte der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der kürzlich eine andere Zeltstadt besuchte – in den italienischen Abruzzen, wo die Opfer des dortigen Erdbebens untergebracht waren. Hinterher gab Berlusconi ein Interview, in dem er sagte, den Menschen mangele es an nichts: »Man muss das nehmen wie ein Camping-Wochenende.« Eine taktlose Dummheit – aber doch auch mehr. Denn in der Tat hat das Zelt, so gut es als Zeichen für Verlust, Hoffnungslosigkeit und Elend funktioniert, eine merkwürdige Doppelbedeutung. Exakt dieselben Rundplanen-Modelle, die in Sacramento stehen, hätten auf einem offiziellen Campingplatz ein paar Meilen weiter, auf einem Rockfestival im Freien, in einem Pfadfinderlager keinerlei negative Konnotation. Aus obdachlos, also wörtlich ohne Dach, wird dann einfach »Outdoor« oder »Open Air« – schon klingt es spannend und nach Abenteuer. »50 000 Menschen jetzt Open Air« – eine solche Erdbeben-Meldung wäre nur die logische Fortsetzung eines Denkens à la Berlusconi. Das Zelt ist dem Haus als Unterkunft ja auch nicht in jedem Fall unterlegen. Zusammen mit einem passenden Schlafsack kann man Temperaturen bis minus vierzig Grad darin überstehen, das schaffen viele Heizungen nicht. Und bei Nachbeben fällt einem das Dach nicht auf den Kopf. In seiner Hightech-Variante steht das Zelt gerade für die Errungenschaften der Zivilisation, nicht für deren langsame Auflösung. Deshalb muss auch immer sehr genau markiert werden, in welchem Zusammenhang man das Zelt gerade antrifft. So wird Camping als reguläre Freizeitaktivität noch einmal streng von »Wildem Camping« unterschieden, das vielerorts als illegal verfolgt wird. Von dort ist es dann schon nicht mehr weit nach Sacramento und zur »Slumbildung«. Gerade größere Zeltlager in Katastrophengebieten und Militärlagern erzählen auch dadurch von der Sehnsucht nach der Zivilisation, dass sie meist höchst akkurat in Reih und Glied errichtet werden – eine Ordnung, die für das Freiheitsversprechen des Urlaubszelts wiederum sehr hinderlich wäre.

Neben der offensichtlichen Frage, ob man freiwillig oder unfreiwillig in einem Zelt wohnt, spielt die Idee der Dauer am Ende die entscheidende Rolle. Von seinen nomadischen Ursprüngen als Tipi, Wigwam, Jurte, später als Zirkus-, Party-, Oktoberfestzelt – stets ist im Zelt die Bestimmung enthalten, dass es auch wieder »abgebrochen« wird – weil neue Weidegründe rufen, weil der Spaß auch mal vorbei sein muss oder weil das normale Indoor-Leben eine Rückkehr verlangt. Auch Zeltstädte für Flüchtlinge, Erdbeben- und Flutopfer tragen dies in sich – nur Durchgangsstation zu sein, eine Notlösung für den Moment. Der eigentliche Schrecken der Zeltstadt von Sacramento ist in Wahrheit ganz unsichtbar. Er liegt darin, dass ihre Existenz – genau wie die Krise selbst womöglich – auf ganz und gar unbestimmte Dauer angelegt ist. Genau das aber darf ein Zelt nicht sein. Auch deshalb hat Sacramentos Bürgermeister nun angekündigt, die Zeltstadt-Bewohner bis zum 30. April zwangsweise verlegen zu lassen – auf einen Campingplatz.

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Foto: dpa