Aus den letzten Jahren weiß ich, wo ich als Breznbua in der Hierarchie der Bediensteten im Zelt stehe: ganz unten. Beziehungsweise fast ganz unten. Noch eine Stufe tiefer stehen nur die Brotzeit- und Ramschverkäufer. Es herrscht eine klare Klassenordnung. Die Neuen, die das noch nicht wissen, bekommen es sofort zu spüren. Die Blicke der Security, die keine Anstalten machen, niederen Bediensteten auszuweichen. Das Gebrüll der Bedienungen: »Aus dem Weg! Du hast hier gerade noch gefehlt!« Die Freude, wenn sich doch noch jemand aus der oberen Kaste herablässt und dich grüßt. Vielleicht sogar mit dir redet. Hier erahnt man als Sprössling der Münchner Mittelschicht noch, was es heißt am Rande der Gesellschaft zu existieren, als ungelernte Arbeitskraft gebeutelt zu werden von der Suche nach Geld und Anerkennung.
Die Hierarchie ist offensichtlich. Die Queen des Zeltes ist die Band, nicht nur, wenn sie »We will rock you« spielt. Die Könige sind die Bedienungen. Ihnen zollen die Sicherheitsleute Respekt und halten ihnen den Rücken frei, so gut es geht. Der Adel hat seine Leibgarde. Angeführt wird sie von den zwei Meter großen und etwa genauso breiten Obersicherheitsfachkräften, die nicht in blauem oder orangenem Shirt herumlaufen, wie die normalen Securities, sondern in edler Tracht durch die Gänge preschen, solarium-gebräunt und mit geschniegeltem Haar. Die samtene Weste der Uniform wird von den darunter liegenden Muskelpaketen fast aufgesprengt. Pfauen auf Anabolika. Nur der Knopf im Ohr verrät ihre Zugehörigkeit, zeigt, dass sie keine Biergäste in Rage sind, sondern angestellt wurden, um im Ernstfall wütend zu sein. Ihr Blick duldet keine Widerworte. Ihr Körper keinen Kontakt. Vor allem keinen mit der Arbeiterklasse. Nicht immer natürlich, tatsächlich waren die Sicherheutsleute bei der diesjährigen Wiesn bisher eher nett zu den Leuten aus den unteren Kasten, wie überhaupt der Umgangston unter den Bediensteten bislang überwiegend kollegial war. An der grundlegenden Hierachie ändert sich dadurch aber nichts.
Die Arbeiterklassse, das sind die Köche, der Ausschank, das Personal an den verschiedenen Ständen und die Reinigungskräfte. Und wir, niedere Proletarier, geleitet von unserer Chefin am Breznstand, die uns die Ware verkauft und uns dirigiert. Ab und zu tröstet sie uns. Sie ist sowas wie unsere Zuhälterin und Ersatzmutti. Noch bemitleidenswerter als wir sind nur die Ramsch- und Brotzeitverkäufer, die Plastikrosen, Riesenspreewaldgurken, Fotos auf Papplebkuchenherzen und ähnlichen Kram anbieten. Die beneiden sogar uns. Es sind meist hübsche, junge Frauen, die ihren Bauchladen mit Dingen, die niemand haben will, wehmütig lächelnd vor sich hertragen. Zumindest werden sie, die Trägerinnen selbst, von den Gästen umworben. Das ist ihr Hauch Anerkennung. Auch wenn er von alten schmierigen Männern mit Hintergedanken kommt. Der einzige Trost. Zu sagen haben sie nichts.
Letztes Jahr beobachtete ein Brotzeitverkäufer, wie fünf, sechs Sicherheitsleute einen Mann sehr hart angingen. Als er dazwischen ging, um zu bitten, dass sie den Armen lediglich rauswerfen, wandten sie sich ihm zu, dem Jungen mit Zivilcourage, aber ohne Stellung im Zelt. Kurz darauf kamen die geschniegelten Obersecurities an den Brotzeitstand, um dafür zu sorgen, dass er gefeuert würde, weil er ihre Arbeit behindert hätte. Nur durch Einschalten der höchsten Backwareninstanz, der Chefin des gesamten Backbetriebes, konnte der Konflikt friedlich gelöst werden. Dem Verkäufer mit Moral machte das Security-Team danach das Leben ziemlich schwer.
Auch als Mitglied der Breznkaste hat man es nicht leicht, sich Respekt zu verschaffen. Die meisten Ordner lassen sich nur bei den nettesten Mädchen unserer Schicht auf ein Gespräch ein. Der Hilfe bei Problemen und Übergriffen kann man sich nie sicher sein. Zur Seite gedrückt wird man häufiger. Daher ist es riskant, einem frisch ertappten Brezndieb damit zu drohen, ihn rauswerfen zu lassen. Der Hilferuf eines Breznverkäufers verhallt häufig im Nichts der Massen. Auch Bedienungen sind schnell genervt von den Scharen an Korbträgern, die sich zu den Reservierungswechseln in ihrem Revier tummeln. Um uns loszuwerden legen sie Brezn, die sie zuvor selbst am Stand gekauft haben, auf die reservierten Tische. »Ich will dich hier nie wieder sehen!«, schüchtern sie uns ein. Was? Ich arbeite auch hier. Wir sehen uns noch die nächsten 14 Tage. Sorry! Sie postieren Ordner an den Gängen, um uns davon abzuhalten ihre ersten Gäste schon zu belästigen, bevor diese ihre Jacke abgelegt und ihre Freunde und Kollegen gefunden haben. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Zu hoch der Druck, verkaufen zu müssen. Wer als erstes an einen neuen Tisch kommt, hat gute Chancen auf dutzendfache Bestellungen.
Doch nicht alle sind vom Stolz auf ihre Position besessen. Es gibt auch Sympathie und Zusammenarbeit zwischen den Klassen. So vermitteln einige Bedienungen uns Kunden an ihren Tischen oder geben Bescheid, wenn eine Box gerade von einem Kollegen vollständig bestückt wurde. Jeder von uns hat seine Kontakte, um bei kurzem Small-Talk Geld zu wechseln. Und der Türsteher am Brezn-Stand, meistens der liebste und unscheinbarste der Kraftprotze, redet mit uns. Grüßt freundlich. Hilft uns.
Manche meiner Kollegen fühlen sich sogar berufen, die Hierarchie im Festzelt anzugreifen. Sie opfern wertvolle Verkaufszeit für Gespräche mit Höhergestellten, in der Hoffnung, zusammen mit der hübschesten Ramschverkäuferin auf die Party für die höheren Kasten in der letzten Wiesn-Nacht gelassen zu werden. Aber letztlich kommen kommen wir alle nicht um ein bisschen Networken herum – ob es ein nettes Gespräch mit der Stand-Chefin ist, ein bisschen Zuhören an der Tür, ein wenig Tratsch in den Boxen. Wer sich sympathisch wird, hilft sich gegenseitig. Ein Stück Bruchbrezn gegen den Einlass einer Freundin. Ein Schluck Schnaps gegen den Zugang auf den Balkon. Und immer die Hoffnung, einmal in eine höhere Kaste aufsteigen zu dürfen.
Nur am letzten Tag, wenn die Hierarchien bald keinen Wert mehr haben, trinkt jeder mit jedem. Dann fühlt man sich anerkannt, angekommen. Doch meistens gilt, was Thomas Hobbes dem menschlichen Urzustand attestierte: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Im Trachtenpelz. Zumindest, wenn er nicht Teil der Familie ist. Und so sind wir mit unseren von der Standmutti gefüllten Körben auf uns allein gestellt. Versuchen uns zu unterstützen so weit es geht. Lächeln uns auf dem Gang zu. Geben uns Bescheid, wenn jemand eine Brezn haben will, unser Korb aber gerade leer ist. Bedienen keine Box, in der bereits einer von uns verkauft. Lassen uns dankbar auf Deals mit den Dienstältesten ein, denen es nichts ausmacht, sich nach 21 Uhr noch auf die Suche nach den letzten liquiden, hungrigen Trunkenbolden zu machen, um den Umsatz noch einen Deut zu steigern. Dann kaufen sie uns jüngeren, schwächeren die letzten Brezn aus dem Korb ab. Und wir können mal früher gehen. Wir mögen uns irgendwie, auch wenn wir in der Welt da draußen ganz verschieden sind.