Ein neuer Morgen im Festzelt. Verschlafen laufen die Breznverkäufer die Gänge ab. Unter der Woche ist morgens nicht so viel los. Doch dann: Eine Gruppe kichernder Männer Mitte 30 ruft meinen Kollegen zu sich. Vor ihnen tanzt eine halbe Brezn über den Tisch. Ohne, dass jemand sie berührt – alle Anwesenden heben demonstrativ die Hände. »Hast du das schonmal gesehen?«, fragt einer der Typen. »Weißt du, wie das funktioniert?« – »Hä? Was?«, antwortet mein Kollege verdutzt. Der gesamte Tisch lacht sich kaputt. Dann wird das Rätsel feierlich enthüllt: In der Brezn steckt ein Vibrator.
Alles klar. Es bleibt die Frage, warum eine Gruppe, die nur aus Männern besteht, den mit ins Zelt nimmt. Wollen sie die dazu passende Frau an diesem Tag noch ausfindig machen? Wie bei Aschenputtel, bloß als Porno-Variante? Oder stammt er von einer Wiesn-Bekanntschaft und dient seither als Glücksbringer? Denkbar wäre vieles. Die Frühlingsgefühle spielen hier bekanntlich auch im Frühherbst verrückt. Ob in Form eines niedlichen »I mog di«–Lebkuchenherzes oder einer am Schießstand geschossenen Rose. Die Kehrseite sind versteckte Grapscher in der Menge und andere Formen der sexuellen Belästigung bis hin zur Vergewaltigung. Die Stimmung ist geladen vom Ziel, das viele als krönenden Abschluss eines gelungenen Wiesn-Tags vor Augen haben: einmal zünftig Schnackseln. Als Breznverkäufer bleibt man von diesem Sog natürlich nicht verschont. Mit ihm wird gespielt. Die Verkaufsstrategie darauf abgestimmt. Und ab und zu reißt uns die Erotik, oder das, was sich bei zu viel Alkohol als solche ausgibt, auch raus aus dem ständigen Verkaufswahn, oder mildert diesen zumindest vorübergehend ab.
Mein Po wird nur circa jeden zweiten Tag begrapscht
Es gibt Kolleginnen, die sich diese Gemengelage ganz bewusst zunutze machen. Egal, ob vergeben oder nicht, die Dirndlschleife wird stets auf links getragen. Das bedeutet: Single. Und zieht männliche Kundschaft an. Ein nettes Lächeln und eine falsche Telefonnummer, zack, ist das Trinkgeld gleich dreimal so hoch. Nur tough genug, um die Kunden mit falschen Hoffnungen nicht an sich rankommen zu lassen, müssen sie sein. Leider sind Griffe an den Po und anzügliche Kommentare auf der Wiesn immer noch alltäglich. #metoo? Wos is des? Verzweiflung anhand der Übergriffe gehört dazu. Nicht jede/r geht damit so selbstbewusst um wie eine Kollegin vom Brotzeitstand: »Wenn sie mir zu nahe kommen, dann klatsche ich ihnen einfach eine! Man muss halt seinen Mund aufmachen.«
Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Kollegin erzählt von einer Souvenirverkäuferin, die im vergangenen Jahr von mehreren Männern festgehalten und begrapscht wurde. Die anderen Gäste gingen nicht dazwischen und auch Sicherheitspersonal war in diesem Moment nicht zu sehen. »Später fand ich sie unter der Treppe. Heulend. Verstört. Am nächsten Tag war sie weg.« Furchtbare Geschichte.
Im Vergleich dazu ist alles, was ich als Mann erlebt habe, harmlos bis schlimmstenfalls lästig. »Na von dir mog i koane Brezn! Schickst a mal deine hübsche Kollegin vorbei!« Belästigt werde ich sehr viel seltener, mein Po wird nur circa jeden zweiten Tag begrapscht. Und so etwas Drastisches, wie ein Kollege letztes Jahr erlebte, ist mir noch nie passiert: Er kämpfte sich mit dem Korb durch das Zelt, als sich plötzlich zwei fremde Frauen vor ihn stellten. Sie grinsten. Er grinste verlegen zurück. Mit einem Mal holten sie beide gleichzeitig aus und schlugen ihm kräftig in die Weichteile. Dann drehten sie sich um und rannten weg. Der Tag war für ihn gelaufen.
Aber meistens wird nur geflirtet. Ob mit homosexuellen Männern, die mir Komplimente für meine Haare machen, oder mit netten Frauen. Solche Kleinigkeiten lassen den Korb gleich weniger wiegen. Nur umsonst gibt’s nichts! Da kann ich noch so nett umworben werden, die Brezn kostet 5,50 Euro. Beim Geschäft kenne ich keinen Spaß! Helfen darf man mir hingegen gerne. Es kam schon vor, dass meine Verkaufsbemühungen von freundlichen Damen unterstützt wurden, die ihren Charme in meinen Dienst stellten. Als Zweierteam liefen wir dann durch die Menge und bequatschten die potenziellen Kunden umso intensiver. Doppelter Umsatz, aber mein Gewinn! Auf Einladungen, nach Feierabend noch ein bisschen mitzufeiern, reagiere ich hingegen eher verhalten. Eigentlich will ich dann doch nur raus aus diesem Zelt. Falls ich doch mal versuche, noch ein Bier mit einer Breznkäuferin von vorhin zu trinken, endet es meistens damit, dass ich sie in dem Meer aus tanzenden, lachenden und sich umarmenden Körpern nicht mehr finden kann. Dann lande ich irgendwo anders und trinke mit irgendwem anderen. Auch gut.
Der Kollege wurde hingegen für seine schmerzenden Hoden auf wundersame Weise entschädigt. Er traf eine Spanierin, die ihm in ihrem Rausch gestand, ihn süß zu finden. Er überredete einen Security-Mitarbeiter, sie auf den Balkon der Loge zu lassen. Draußen fragte sie ihn: »Darf ich dich küssen?« Irgendwie hatte das ganze noch immer etwas von einem Verkaufsgespräch. Er: »Ja, warum nicht?«, auch wenn er es nicht darauf angelegt hatte. Er musste ja gleich weiterziehen, Brezn verkaufen. Sie war am nächsten Tag weg, aber die beiden hatten Nummern getauscht, er hat bei einem späteren Besuch in Barcelona ein paar Tage bei ihr gewohnt und danach sogar ein Auslandssemester in Spanien gemacht: »Irgendwie war sie dafür schon meine Motivation. Auch wenn es nicht in Barcelona war und wir uns dann nicht nochmal getroffen haben. Was wohl passiert wäre, wenn uns der Security nicht durchgelassen hätte? Dann wäre alles anders gekommen.«
Ich warte noch auf meine Wiesn-Love-Story. Sitze mittags auf der Kotzwiese, trinke meinen Kaffee und schaue Betrunkenen zu, wie sie übereinander herfallen. Vielleicht will ich das auch gar nicht. Ich bin ja wegen des Geldes hier. Liebe, Sex und Spaß sind für Breznverkäufer eher nebensächlich.