Welcher Tag ist heute? Ich weiß es nicht. Nummer 11 sagt mein Notizbuch. Mein Gefühl kennt keine Tage mehr. Nur Verkaufszeiten und ruhigere Phasen. Partylieder und Blaskapelle geben abwechselnd den Rhythmus vor. Dazwischen das Prosit. Alle schlagen die Krüge zusammen. Nur die Belegschaft steht still. Es hat keinen Sinn, in diesem heiligen Moment zu arbeiten. Alle sind auf das Bier fixiert. Keiner beachtet uns. Die Sonne sehe ich kaum. Ich bin für immer, schon immer in diesem Zelt, scheint mir. Routiniert streife ich die Gänge meiner neuen Heimat ab. Die Stimmung ist ausgelassen. Prime Time. Die Bänke und Gänge voll von Menschen, die schreien, lachen, weinen, trinken.
Nur bei mir schlägt der Brezn-Rausch nicht mehr an, wie noch in den ersten Tagen. Er ist zu einem Kater geworden. Mechanisch verkaufe ich ab und zu an eines der unzähligen Gesichter, die ich hier sehe. Hunderte Blicke pro Minute. Mal aus blauen Augen, mal aus braunen. Mal ist der Blick freundlich, mal verschüchtert. Die unglaubliche Menge an Kunden, die von mir Brezn kaufen, verschmilzt in meiner Wahrnehmung zu einem einzigen – dem Breznkäufer.
Der Kunde ist mal männlich, mal weiblich. Mal jung, mal alt. Fast immer in Uniform, seinem Kostüm, der Tracht. Ab und zu quatschen wir. Small-Talk, schon tausendfach geführt. Gracias. Grazie. Merci. Thanks. Danke. Als Italiener gibt er meistens kein Trinkgeld. Als Amerikaner überlässt er mir, nachdem ich ihn freundlich darauf hingewiesen habe, dass man hier Trinkgeld geben darf, wahllos ein paar Münzen. Er hat keine Ahnung, was sie wert sind und fragt nach »Honey-Mustard« oder sonstigem Dip. Als Bayer will er »a resche, salzige« Brezn. Als Schwabe spart er sich die 5,50 Euro für Wichtigeres: »Sei mir ned bees, I wart schon seit a halben Stunde auf mei Spätzle, weisch. A Brezle is des Letzte, was I jetzt brauch!« Als Inder interessiert er sich nicht für mich. Er hat ein Brathendl, das er mit Nüssen und Piri-Piri nachwürzt.
Er kann nett sein. Aber auch gemein, oder arrogant und sich vollkommen danebenbenehmen. Er ist Freund und Feind, Hindernis und Hilfe, Grund der Freude und des Leidens zugleich. Mein ewiger Antagonist, an dem ich mich abarbeite. Er versucht, mir die Käsestange aus dem Korb zu klauen und bezahlt sie reumütig mit seinem letzten Kupfergeld, als ich ihn erwische. Er will mich auf fünf Euro herunterhandeln, doch gibt mir fünf Euro Trinkgeld, als ich hart bleibe: »You do a good job!« Er wirft mir Luftküsschen und Lächeln zu, aber drückt mich im nächsten Moment entnervt zur Seite. Er gibt mir Komplimente und lacht mich aus, beleidigt mich. Er ist all der Widerspruch, den Menschen leben und ausdrücken können.
Es ist nur eine Aufführung die zwei Wochen lang läuft. Großes, absurdes Theater.
Er ist der anstrengende Typ Partner, mit dem mir nie langweilig wird, mit dem ich lachen kann, Geschichten erleben, der mich aber überfordert, anstrengt, anstatt mich zu unterstützen, mir ein stetiges Gefühl der Zuneigung entgegenzubringen. Ab und zu wartet er auf mich, begrüßt mich nahezu sehnsüchtig: »Ja! Ich habe extra auf dich gewartet, um dir eine Brezn abzukaufen, wie vorhin versprochen. Nicht von dem Kellner oder von einem deiner Kollegen.« Danke. Kurz darauf wieder launische Diskussionen, Wortgefechte um Lappalien: »Auf deinem Schild steht aber, dass du a Kaasbrezn hast!« – »Ja, hatte ich, aber die sind seit heute Morgen leider aus. Ich habe aber Käsestangen. Die schmecken genauso.« – »Na, geh weida! Des will I ned. Kimmst wieder, wenn du Kaasbrezn hast. A Riesen-Sauerei is des«, zischt er wütend. Klar. Die größte Sauerei hier ist, dass ich keine Käsebrezn mehr habe, denke ich mir. Nur ab und zu überrascht er mich noch. Gibt mir seine Nummer, fragt, wie es mir geht. Interessiert sich für den, der ich eigentlich bin. Nur um mich im nächsten Moment wieder fallen zu lassen.
Der Kunde schickt uns Breznverkäufer durch alle Gefühlslagen. Nur wenige bleiben davon so unberührt wie eine ältere Kollegin, die ebenso routiniert wie rücksichtslos die Gänge abstreift und jedem ins Gesicht brüllt, ob er eine Brezn haben will. Ohne eine zwischenmenschliche Beziehung zu provozieren oder gar dem Kunden sympathisch sein zu wollen.
Und jetzt bin ich wieder bei ihm, mit ihm, unter ihm. Ich bin im Tunnel. Zwischen den Wänden aus auf Bänken tanzenden Menschen. Mein Blick reicht gerade mal zwei Meter weit. Mein Kopf ist leer. Meine Sinne werden mit Reizen bombardiert. Ich laufe durch die überfüllten Reihen, quetsche mich durch die schwankende Menge. Den Korb trage ich einhändig über dem Kopf. Meine Arme schmerzen. Ich schwitze, versuche zu grinsen. »Braucht hier noch wer ’ne Brezn?« Ein betrunkener Mann reibt sein letztes Stück Laugengebäck, auf dem er soeben noch lustlos herumgekaut hat, an meiner schutzlosen Achsel. »Damit sie schön salzig ist!«, lallt er grinsend. Die Frau neben mir wendet sich angewidert ab. Ich lache.
Kurz flammt in mir wieder die Ahnung auf, dass das hier nicht alles ist. Dass diese, meine Welt in diesen Wochen nicht die wirkliche ist. Es ist nur eine Aufführung die zwei Wochen lang läuft. Großes, absurdes Theater. Die Band spielt: »Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle!« Die Menge brüllt. »Hölle, Hölle, Hölle, Hölle!« Das Lied fließt in meine Ohren, durch meinen leeren Kopf und kommt direkt aus dem Mund wieder heraus. Ich singe mit. Fast immer. Egal welches Lied. Ich merke meistens nicht einmal, was ich da gerade singe. Und kann nie sagen, welcher Hit vor dem laufenden gespielt wurde. Nur manchmal halte ich kurz inne und schüttele den Kopf über die Kombination aus Songtext und meiner Situation. »Atemlos, durch die Nacht.« Ich brauche eine Pause.
Im Brezn-Stand angekommen, lege ich meinen Korb ab und setze mich kurz hin. Ausgelaugt beobachte ich die vorbeiströmenden Massen und denke an den Kollegen, dem vor einigen Tagen jemand an die Beine gekotzt hat. Da wollte er schon aufgeben – und war doch am nächsten Morgen wieder da. Was sollte er sonst auch machen? Er ist ja nur für die Wiesn nach München gekommen. Eine Polonäse zieht vorbei. »An Tagen wie diesen, wünscht man sich Unendlichkeit!« grölen sie. Mein Kopf dröhnt. Ich schaue auf die Uhr. Will schlafen. Noch eine Stunde kämpfe ich mich durch. Verkaufe die letzte Breze an einen Amerikaner, der sie seinem Freund direkt auf den Kopf haut. Er gibt mir einen Zehner. Ich gehe. Raus hier.
Nachts wache ich auf. Ein Ohrwurm lässt mich nicht schlafen. Ein dumpfes: »Hodi odi ohh di ho di eh. Hodi odi ohh di ho di eh. Hodi odi ohh di ho di eh«, kreist in meinem Kopf. »I und du und nur der Mond schaut zu, dann sagst du Hulapalu.« Ich versuche es aus meinem Kopf zu drängen. Muss morgen nochmal früh raus. Versuche an etwas anderes zu denken. Mir fällt nichts ein. Dann schlafe ich wieder ein. Träume von Menschen und Brezn.