Mein Bett, eine Wanne bis oben gefüllt mit Brezn. Ich liege dazwischen. Traue mich nicht, mich zu bewegen. Ich darf das kostbare Laugengebäck nicht zerdrücken. Sonst müsste ich es bezahlen. Mein Körper ist schwer. Selbst, wenn ich wollte, könnte ich ihn nicht regen. Der Gedanke an Brezn beherrscht alles in mir. Wer soll die alle essen? Ich? Wie soll ich hier je wieder rauskommen?
Ich wache auf. Komische Träume wie diesen habe ich schon seit einigen Tagen. Von tief hinten hallt ein leises, rauschendes: »Skandaaal!« Was? »Skandaaaaal!« Hä? »Skandal um Rosyyy!« Oh nein. Erinnerungen kommen hoch. Schleifen der immergleichen, unaufhörlichen Bilder. Bier, Brezn, Menschen. Viel zu viele Menschen. Mit einem leisen, aber entschlossenen Schrei rolle ich mich aus dem Bett. Schaue dem Etwas, das vielleicht irgendwann ich gewesen bin, im Spiegel in die Augenringe. Mein Körper löst sich langsam auf, zerfällt. Der Verstand zerfließt. Wird eins mit dieser Welt, die nur noch Wiesn ist. Ich bin das Schlachtfeld, das die Feierei jeden Abend auf der Theresienwiese hinterlässt. Wie lange soll das noch gehen? Wie lange muss ich noch gehen können? Zeit für eine Bestandsaufnahme.
Schnell unter die Dusche. Für fünf Minuten sauber und menschlich fühlen. Dann geht’s wieder rein in die stinkenden Wadlschoner. In eins der schon mehrfach durchgeschwitzten Wiesn-Hemden. Ich habe ja nur fünf. Und keine Zeit zu waschen. Dann noch der Janker drüber. Die Flecken, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen, ob von Bier, Sauce, Schweiß oder gar Erbrochenem, ignoriere ich gekonnt. Riechen kann ich sowieso nicht mehr. Meine Nase ist zu. Schon seit dem zweiten Tag. Der Hut, mittlerweile labbrig und ohne schicke Kordel, komplettiert meine Uniform. Mein Gesicht schaut bleich darunter hervor. Kam ich nicht vor gerade mal drei Wochen noch braungebrannt aus dem Urlaub?
Dann: Frühstück. Falls man das so nennen kann. Es gibt die Breznreste vom Vortag. Dazu Kaffee, einen halben Liter Ingwertee, Hustensaft und zwei Vitamin-C-Kapseln. Bevor ich aus der Tür stolpere, wickele ich mir noch ein Halstuch um und werfe zwei Salbeibonbons ein. Das Kratzen im Hals bleibt. Auf der Fahrt in der Tram nicke ich nochmal kurz weg. Bei der Ausweiskontrolle am Eingang des Festgeländes krächze ich dem Security-Mitarbeiter, der wie jeden Tag halbherzig in meinen immergleichen Jutebeutel mit Thermoskanne und Bonbonpackung lugt, ein heiseres »Servus« zu. Die Antwort: ein wehleidiges Lächeln. Dann reiht er ein weiteres Papierband an den Henkel meiner Tasche. Mittlerweile sind es 14. Sie zeigen, dass der Inhalt sicher ist. Gecheckt. »Danke«, nuschele ich. Ich darf wieder auf das Gelände.
Die Plüschbären wirken auch irgendwie verkatert. Die Mitarbeiter hinter den Theken sowieso.
Es fängt an zu nieseln. Ich knöpfe meinen Janker zu und ziehe die Ärmel über die Hände. Die Hütten der Fahrgeschäfte und Verkaufsstände öffnen langsam und verschlafen ihre Rollläden. Auch ihnen sind die Strapazen der letzten Tage anzumerken. Das Holz ist feucht, dunkel und dreckig. Die Plüschbären, die bei Wind und Wetter als Kundenmagneten dienen sollen, wirken auch irgendwie verkatert. Die Mitarbeiter hinter den Theken sowieso. Kaum einer, der kein Halstuch trägt. Noch ist es schön ruhig. Die Achterbahnen schreien und blinken noch nicht. Die Unmengen an Metall noch ungeschminkt. Die Betreiber begutachten noch kurz, ob die Geräte das Vergnügen noch aushalten, das sie bieten. Kleine Roststellen werden sichtbar. Schrauben werden überprüft. Haltebügel getestet.
Ich biege ein auf die Meile des Rausches. Steuere wie ferngelenkt auf meinen Eingang zu. Der Türsteher nickt verschlafen. »Servus!« Meine Kollegen stehen schon in einer Reihe am Breznstand, um sich die Körbe befüllen zu lassen. Ein schniefender, hüstelnder Haufen. Jeder hat den Wiesn-Schnupfen. Ihre Körper stützen sie teilweise mit Bandagen. Sehnenscheidentzündungen und Knieprobleme sind keine Seltenheit. Doch wieder sind sie alle erschienen. Frei nimmt sich niemand, egal wie krank. Denn einen Tag zuhause bleiben hieße aufzugeben. Den Verdienst und den Stolz. Und wer weiß, ob man sich dann noch motivieren könnte wiederzukommen. Wer doch aufgibt tut das schon in den ersten Tagen. Dieses Jahr haben allerrdings alle bis heute duchgehalten. Die meisten wissen ja, dass Kranksein dazugehört. Ich bin mal wieder der Letzte. Wir nicken uns zu. Lächeln müde. »Servus, Genossen!«
Ich hole den Korb, auf dem mit Edding mein Name steht, aus dem Lagerraum hinter dem Schrank. Noch ist er schön leicht, sodass es nur kurz schmerzt, als ich den Gurt auf die Stelle an meinem Nacken lege. Ist da schon eine Kerbe? Es fühlt sich zumindest sehr vertraut an. Die Chefin befüllt mir den Korb. Ich bezahle die erste Ladung. Auch der Geldbeutel wiegt nun, in der zweiten Woche, schwerer. Noch ein kurzer Plausch unter Breznfreunden. »Na, was meinst du, wie’s heute wird?« – »Letzter Wiesnfreitag halt.«
Dann werden die Tore geöffnet. Die Gäste stürmen jubelnd und schreiend auf die besten Plätze. Jeder der Verkäufer sucht sich einen Gang, in dem er die erste Ladung loswerden will. Mir bleibt wieder mal nur ein halbleerer. Naja. Ich hieve den Korb auf meinen Gürtel, strecke den Rücken zum Hohlkreuz durch und brülle ein erstes »Na, wer will hier gleich mal ne Brezn ham?« Das Brennen im Hals ignoriere ich. Den Husten unterdrücke ich. Ein kurzer Blick zu meinem Kumpel, der in der Nebenreihe schon die ersten Kunden bedient. Er grinst mich an. Wirkt bereit. Auf Betriebstemperatur. Die Maschine läuft. Noch trägt er die Regenjacke, die er in zwei Stunden aufgrund der stickigen Hitze ablegen wird. Ich freue mich schon auf die erste kurze Teepause im Kabuff, in dem die Körbe und Brezn lagern, sobald der erste Schwung abgeflaut ist. Der erste Schnaps, der die Muskeln aufwärmt und das Gemüt erheitert. Heute durchhalten, und dann noch zwei Tage.