»Money, money, money / Must be funny / In the rich man’s world«, summe ich, während ich das Geld in meinem Beutel zähle. Nach und nach bilde ich Häufchen. Erst den Hunderter, dann die Fünfziger, dann die Zwanziger, und so weiter bis zu den Ein-Cent-Münzen. Ja, auch die nehme ich an. Geld ist Geld. Es ist abends, ich bin zurück von der Wiesn und das Erfassen des Cash-Flows ist die tägliche Freude, die mich am nächsten Morgen wieder aufstehen lässt. Heute war ein guter Tag. Ich war gut drauf. Über 200 Euro habe ich gemacht. Ungläubig erinnere ich mich an den Verkaufsrausch, der mich heute erfasst hat. Schleppen, Winken, Grinsen. Verkaufen! Verkaufen! Verkaufen! Hätte ich mich aus der Ferne dabei beobachtet, hätte ich mich nicht wiedererkannt, so sehr verändert die Wiesn diejenigen, die dort arbeiten. Mich zumindest.
Natürlich. Wir sind wegen des Geldes da. Es lohnt sich. Man kann auf drei- bis viertausend Euro in 16 Tagen kommen. Aber dazu muss man genug verkaufen. Wir Breznverkäufer erhalten keinen Stundenlohn, wir werden am Umsatz beteiligt. Das heißt wir kaufen die Brezn am Stand etwas billiger ein und verkaufen sie mit Marge an die Kunden weiter. Die liegt unter 50 Cent, bei einem Endpreis von 5,50 Euro für eine großen Breze. Oben drauf kommt noch das Trinkgeld, das dieses Jahr wegen des für uns eher ungünstigen Preises aber leider häufig ausfällt. Die Enttäuschung ist groß, wenn der Kunde sein letztes 50-Cent-Stück im Geldbeutel entdeckt, statt auf sechs Euro aufzurunden.
Die Angst vor einem Tag mit Bezahlung knapp über dem Mindestlohn lässt uns alle zu Unternehmern werden. Jeder entwickelt seine Verkaufsstrategien. Jeder Schritt, jeder Atemzug wird bestimmt von dem Ziel, möglichst viel Gebäck unter die Leute zu bringen. Schon morgens ist der erste Gedanke: »Bleibe ich noch zehn Minuten länger liegen, um einigermaßen fit zu sein und damit energischer durch das Zelt heizen zu können, oder versuche ich, heute mal vor den anderen in der Schlange am Brezn-Stand zu sein, um als Erster die vollste Reihe mit hungrigen ersten Gästen bedienen zu können?«
Dann die Frage: »Wie voll belade ich meinen Korb?« Mehr ist immer besser. Dann kann die Ware besser präsentiert werden und sieht im großen Korb nicht so schnell armselig aus. Außerdem muss man dann nicht so schnell wieder auffüllen, jede Betankung bedeutet schließlich Zeitverlust. Aber ein voller Korb ist natürlich viel schwerer als ein halbleerer, was vor allem nachmittags von Bedeutung ist, wenn man den Korb auf dem Kopf tragen muss, um schneller durch die überfüllten Gänge zu kommen. Außerdem muss man die Brezn loswerden, bevor sie so labbrig sind, dass keiner sie mehr haben will. Wobei das zugegebenermaßen eher selten geschieht. Und dass das Salz bei Brezn, die länger im Korb liegen, irgendwann abgerieben ist, stört auch die Wenigsten. Mag sowieso nicht jeder.
Einen Masterplan gibt es nicht, man muss flexibel sein, das eigene Auftreten stets der Situation und den potenziellen Kunden anpassen.
So laufen wir Breznverkäufer durch die Gänge. Jeder mit dem gleichen Ziel, aber mit eigener Strategie. Wann halte ich die Brezn wie hoch? Halte ich nur die Brezn hoch, oder zeige ich auch die Speckstange, weil das Publikum aussieht, als wolle es eher die deftigere, billigere Backware? Von wem will ich gesehen werden? Wen lächele ich wie an? Wen grüße ich? Auf welcher Sprache? Mit welchem Spruch? Wann bleibe ich stehen? Wann gehe ich zu den Reservierungswechseln, bei denen ich, wenn ich Glück habe und den Chef der Gruppe antreffe, meinen kompletten Korb loswerde? Oder versuche ich lieber, den Rest des Zeltes zu bedienen, während alle Kollegen sich dort gegenseitig die Kundschaft streitig machen? Wo laufe ich wann lang? Einen Masterplan gibt es nicht, man muss flexibel sein, das eigene Auftreten stets der Situation und den potenziellen Kunden anpassen. Den Markt und die Konkurrenz, meine Kollegen, Freunde, habe ich stets im Blick.
Heute lief es gut. Der Brezn-Rausch, horvorgerufen durch eine Phase, in der ich den Inhalt meines Korbes in wenigen Minuten komplett verkauft hatte, ging früh los. Wie manisch rannte ich durch das Zelt, lachte und sang die Lieder der Band mit, den Korb locker über dem Kopf schwenkend. Nach der Mittagspause kam ich genau zum großen Rush ins Zelt zurück. Perfektes Timing. Mit einem Schluck Bier kurz die Essensreste runtergespült, den Korb frisch beladen, dann ging es los. Voller Elan stürzte ich mich ins Getümmel. Im ersten Gang dann der erste Jackpot. Ein Mann kauft Brezn für die ganze Gruppe. Er bezahlt mit Gutscheinen. Gibt mir einen zu viel. Ich schaue ihn fragend an. Will er mir wirklich so viel Trinkgeld geben? »Passt scho’!«, sagt er. »Danke«, antworte ich.
Das Zelt kommt mir plötzlich viel schöner vor. Die Farben heller. Die Leute netter. Alle lächeln mir zu, so scheint es. Zwei Reihen weiter. »Hier wer a Brezn? Zwei Stück? Gerne! Macht dann 11 Euro.« Der Kunde drückt mir zwei Zehner in die Hand, ich bekomme einen Euro Trinkgeld. Dann gleich daneben noch eine Breze. Und noch eine. Es hört nicht auf. Ich bin im Verkaufsrausch. »Alle machen das hier so«, sage ich mir. »Ich muss also auch.« Wenn der Wahn einmal entfesselt ist, vergesse ich jegliche Manieren. Ich habe mal Philosophie studiert? Bin ansonsten kein Freund des zügellosen Kapitalismus? Egal. In den Zelten geht die Geschichte eines Kollegen rum, dessen Gier so weit ging, dass er jeden Morgen vier oder fünf Brezn vom Bäcker mitbrachte und unter die am Breznstand erworbenen mischte. Er provozierte seinen Rausschmiss wegen etwa 15 Euro mehr Gewinn pro Tag.
Alle halbe Stunde renne ich zurück, um den Korb neu zu befüllen. Die Zeit fliegt, ich bin im Tunnel. Nur ab und zu bin ich empfänglich für einzelne Impressionen, die mir zufliegen. Mein Kollege, der zehn Meter weiter Müdigkeit simuliert, seinen Korb auf einen Tisch stellt und so tut, als wäre er ihm zu schwer, damit ihm mitleidige Gäste etwas Last abnehmen. Andere Kollegen, die mir mit leerem Korb entgegenkommen und freudig lachen. Ich, wie ich hochrot, schwitzend und auf bayerisch erkläre, leider kein Kleingeld mehr zu haben. Der nervöse Blick zur Seite, zu den nächsten Kunden, wenn einer mal zu lange braucht, um seine Börse zu zücken.
Dann, irgendwann: Ruhe. Der Ansturm ebbt ab. Der Rausch kommt und geht in Wellen. Ich gehe zurück zum Stand. Spüre meine Beine wieder, brauche eine Pause. Im Brezn-Kabuff, wo wir unsere kurzen Pausen zum Durchschnaufen und Bruchbrezn knabbern verbringen, begegne ich einem verzweifelten Kollegen. Er hat einen Zusammenbruch, kommt anscheinend mit dem Stress heute nicht klar. Wir teilen uns eine Maß. Für heute sind wir durch. Einen letzten Korb machen wir vielleicht noch.
Jetzt sitze ich wieder zuhause. Die Bruchbrezn im Jute-, die Stimmung im Geldbeutel. Platt. Leer. Reich. Das heute war nicht ich. Aber mich gibt’s nicht mehr. Nicht in diesen Wochen. Der Breznbua hat übernommen.