Es ist früher Nachmittag. Kurz nach drei. Der Zeltbetrieb läuft routiniert. Noch ist es ruhig und die Gänge sind frei. Die Käsespätzle, die ich zu Mittag gegessen habe, liegen mir schwer im Magen, während ich träge die Reihen ablaufe. Den Arm mit der Breze auf meinen Gurt gestützt, erinnere ich mich an die Worte des Stammgastes, an dessen Tisch auf der Empore wir gerade gegessen haben: »Seit zehn Jahren kimm i jeden Tag hier her. Immer direkt nach der Arbeit am Nachmittag. Des is für mi abschalten. I sitz hier oben an dem Tisch, an dem I immer sitz und zwitscher mir einen nei. Ab und zu kimmt amal wer vorbei und setzt si dazu. I kenn hier jeden. I kann hier jeden einladen, und sei Freundinnen glei dazu. Des is scho was, wenn man des wem bieten kann. I krieg in jedem Restaurant in des I wui an Tisch. I lad einfach den Chef hierher ein und der lädt mi ein. Wo hat man des heit scho no. Des is dieses…«, ein kurzer, nachdenklicher Blick auf die halbvolle Maß vor ihm, »…Vitamin B, is des.«
Abschalten? Gegenseitige Gefallen und ein nettes Miteinander? Unter Tausenden von Menschen? Bisher war mein Bild von den Festzelten eher von Lärm, stickiger Luft, Stress, Gedränge geprägt. Doch nun, da ich ohne großen Verkaufswillen nachmittags durch die Gänge spaziere, ahne ich, was er meint. Diese Unmengen an Personen und Situationen beobachten zu können, still, ohne Drang einzugreifen – das ist, wie einen Film zu schauen. Beziehungsweise tausende Filme, von denen jeder nur wenige Sekunden dauert. Gerade genug, damit sich die jeweiligen Protagonisten in prototypischer Pose in Szene setzen können.
Da sitzen zum Beispiel Gruppen von Nordamerikanern, erkennbar meist an ihren Trachten, die alle gleich aussehen. Blaues Hemd. Einigermaßen ordentliche Lederhosen. Die Zeiten der Plastikhosen und -dirndl sind vorbei. Zum Glück! Nur die albernen Outfits mit einer Hose, die aussieht, wie ein kleiner Mann, der den Oberkörper trägt, haben sich auch dieses Jahr durchsetzen können. Jedenfalls verbringen solche Gruppen hier meist ihren Urlaub gemeinsam beim Biertrinken. Sie sind auf lustige Abenteuer aus. Freundlich versuchen sie, in gebrochenem Deutsch Brezn zu bestellen und sind fasziniert von deren Größe: »Wow! They are huge! Amazing! Here, take a picture with us, please!« Die Stimmen laut, die Stimmung ausgelassen, selbstbewusst. Was die wohl sonst in ihrem Leben machen? Direkt daneben: asiatische Kunden. Sie sind meist schüchtern, bestellen etwas kleinlaut, leise gestikulierend eine Breze und schießen gleich danach freudig-fasziniert unzählige Fotos, während sie in das exotische Gebäck beißen. Schon lustig, wie man so auf den Ursprung vieler Klischees und Vorurteile stößt.
Ein ehemaliger Kollege von mir hat während des Breznverkaufs ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei ergattert
Am selben Tisch, neben den Touristen, sitzen urbayerische Ehepaare und Familien, die gemeinsam Hendl und Ochsenbraten verspeisen. Die Kinder kauen auf Stücken der Brezn herum, die größer sind als ihr Oberkörper. »Gibst uns a Brezn! Aber a schee Helle!« Allein die Art, wie bestellt wird, verrät die Herkunft. Ich bemühe mich, bayerisch zu antworten. »Merci!« – »An Guadn!« – »Servus!« Die einzige Möglichkeit für sie, mit ihren internationalen Nachbarn zu kommunizieren, besteht im Zuprosten. Reicht aber auch. Man ist sich sympathisch. Kennt sich nicht, doch kommt hier gut miteinander aus.
In den Boxen sind Geschäftsmänner am Networken. Hier werden Deals verhandelt, Karrieren angeschoben. Ein ehemaliger Kollege von mir hat so während des Breznverkaufs ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei ergattert. »Vitamin B!«, hallen die Worte des weisen Stammgasts in meinem Kopf. Daneben sind die Bankreihen voll mit Mitgliedern von Trachten- und Schützenvereinen, freiwilligen Feuerwehren und Blaskapellen. Stolz sitzen sie in ihren regionalspezifischen Trachten da. Sie sind die Einzigen hier, deren Kostüm zu ihrem Leben außerhalb der Wiesn passt. Brezn bringen sie sich meist selbst mit. Wenn sie mich dann doch mal ansprechen, sind es kleine Sticheleien, die mir klarmachen, dass sie hier die wahren Hüter der Tradition sind. »Wie alt san denn die Brezn? San die a no vom letzten Jahr?« – »Ne, vor einer Stunde hier im Zelt gebacken!« – »A geh weida, Bazi!«
An der Ecke steht ein Ordner. Der Schönling unter den Sicherheitskräften. Wenn er gerade nicht damit beschäftigt ist, Komplimente von jungen Damen zu erhalten, zwinkert er den Verkäufern lässig zu. Seinem Kollegen, einem Netten, mit dem ich mich schon ab und zu unterhalten habe, drücke ich ein Stück Bruchbreze in die Hand. Manchmal können hier alle unglaublich nett zueinander sein. Hier will doch auch jeder nur seinen Spaß. Ärger entsteht nur bei Stress. Oder, wie es ein Mitglied der Jungen Union ausdrückte: »Egal mit wem wir koalieren, heute sind wir hier, um hundertprozentig zu feiern!«
Und so tut jeder das seine. Hier stellt sich wer auf seine Bank, um aus seinem Schuh Bier zu trinken und für wenige Sekunden die Aufmerksamkeit des ganzen Zeltes auf sich zu ziehen, dort steht ein Promi in der Menge, um Selfies mit Betrunkenen zu machen. Schon erstaunlich, wie die Leute selbst auf einen schon lange nicht mehr wichtigen Ex-Fußballer wie Kevin Kuranyi reagieren, den ich hier mal gesehen habe. Und als Arnold Schwarzenegger mit seinem Sohn ins Zelt kam und auf der Empore Platz nahm, wurde allen, auch den Breznverkäufern, sofort der Zutritt dorthin verweigert. Drag-Queens stolzieren durch die Gänge, Politiker sitzen neben Journalisten. Ob Promi oder nicht, man begegnet sich. In einer Reihe macht ein Mann in Lederhosen seiner Freundin einen Heiratsantrag. Das Publikum grölt, jubelt. Das Paar umarmt sich und stößt dann mit dem Rest des Tisches auf das Ja-Wort an. Ob sie sich wohl hier, genau an diesem Tisch, kennengelernt haben?
Und ich? Ich werde weiterhin für Ed Sheeran gehalten. Auch wenn dank dieser Kolumne ein paar Leute inzwischen mitbekommen haben, dass ich das nicht so mag. Aber irgendwie ist es auch nett: »Sag’ jetzt mal ehrlich! Bist du irgendwie mit Ed Sheeran verwandt?« – »Nein.« – »Wo bist du denn geboren?« – »München.« – »Hm. Kennt man dich dann irgendwie aus der Zeitung?« – »Naja. Es gibt da so ’ne Online-Kolumne.« – »Ach lustig, machst du ein Foto mit uns, Ed?« Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, der Brezn-Ed zu sein. Jeder hat hier seine eigene Rolle, die er für ein paar Stunden, einen Tag, zwei Wochen spielt. So entstehen unendlich viele kleine Geschichten, die für sich genommen wohl eher unbedeutend wären, doch zusammen genommen die Faszination der Wiesn ausmachen.
Das Schöne: Es sind keine Dramen. Wenn doch, dann sehe ich meistens ausschließlich die Szene vor der entscheidenden Wendung, den kurzen Moment des Höhepunkts, an dem die Handlung der Geschichten noch ruhig, linear, vorhersehbar verläuft. An dem alles in Ordnung ist, alles noch einmal entspannt, bevor die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Die Laune ist wohlwollend, fröhlich. Manche nennen das Liebe. Einer meiner Kollegen arbeitet nur deswegen hier, wegen der Stimmung und der Leute. Nur hier schunkelt der CSU-Wähler mit dem Araber, der junge Betrunkene mit der traditionell-bayerischen Familie. Jeder ist dem anderen Statist und Publikum zugleich. Ab und zu kreuzen sich ihre Filme. Erschließen sich gegenseitig. Dazu die Geräuschkulisse. Ein Klangbad aus Tausenden Stimmen, dem Klirren der Krüge und den Rhythmen der Kapelle. Ich lasse mich berieseln. Der Dunst tropft leise von der Decke. Alles ist gut. Zünftig. Gmiatlich. Vielleicht setze ich mich nach Feierabend noch an einen Tisch. Spiele meinen eigenen Film weiter. Den abseits des Breznbuas.