Das Salz des Lebens

Als unser Kolumnist auf zwei verrückte Wochen zurückblickt, fällt ihm auf, dass sich heuer etwas geändert hat auf der Wiesn: Die Leute kommen nicht mehr wegen des Bieres, sondern wegen etwas ganz anderem.

Geschafft! Nach zwei Wochen auf der Wiesn wird unser Kolumnist in nächster Zeit einen großen Bogen um's Laugengebäck machen.

Foto: Verena Brennecke; Illustration: Al Murphy

Und dann stand ich da. Auf der Empore, wo die gesamte Zelt-Besatzung feiert. Neben mir meine Kollegen. Die Band spielte das letzte Lied. Wir hielten uns gegenseitig in den Armen. Grölten mit. Hielten Wunderkerzen und Bierkrüge in den Händen über den Schultern der anderen. Vor uns lag das Zelt. Eine wogende Masse an abertausenden funkenden Kerzen. Ich fühlte mich leicht. Wir haben es geschafft! Freudig umarmte sich die Brezngarde. Gerührt. Wer weiß schon, ob man sich je wiedersehen wird. Wer nächstes Jahr noch dabei ist. Und etwas getrunken hatten wir auch schon. Das verstärkte die Emotionalität, die in unseren gebeutelten Körpern und ausgebrannten Köpfen hochstieg.

Bis nachmittags haben wir noch gearbeitet. Brezn verkauft. Auch am letzten Tag sind die Leute hungrig. Dasselbe Spiel wie die zwei Wochen zuvor. Die meisten Leute schauen beschämt zu Boden, aus Angst ein langer Blick könnte sie bereits zum Kauf einer Brezn verpflichten. Ab und zu sticht ein freudig wedelnder Arm aus der Menge. Noch ein letztes Mal tummelten wir uns zu den Reservierungswechseln zu zehnt in drei Reihen. Nervten die Kunden, doch mussten das ignorieren, weil man hier am meisten verkaufen kann. Aber im Kopf hatten wir alle seit morgens nur den Gedanken, dass es heute Abend vorbei ist. Dass das der Schlussspurt sein würde. Bereit für das Zielfoto, wechselten wir irgendwann die Seite. Gaben aus, was wir am Vormittag verdient hatten. Wurden von Bediensteten zu Konsumenten. Endlich mal das sein können, was wir davor irritiert beobachtet hatten. Den verschwommenen Blick bekommen, der die Gäste den Bedienungen und Breznverkäufern im Weg stehen lässt, ohne, dass sie es merken. Das schier unendlich wirkende, hart erkämpfte Geld in unseren Beuteln verprassen können. Für viel zu teures Bier. Für Essen, das wir uns in den letzten zwei Wochen nicht geleistet hatten.

Sich darauf freuen zu können, ab morgen wieder ein eingermaßen normales Leben zu führen. Endlich ausgelassen feiern zu können. Insbesondere mit den Kollegen, mit denen man 16 Tage durch dick und dünn gegangen ist. Mit denen man aus unterschiedlichen Teilen Bayerns, Deutschlands und der Welt zusammengekommen ist, um diese absurde Episode zusammen durchzustehen. Um sich Geschichten zu erzählen. Von Leuten, die Sex auf der Kotzwiese hatten, während man daneben zu Mittag aß. Von bizarren Gesprächen, die man geführt hat: »Is your name cock?« – »Äh, nein. Aber fast. Ich heiße Korbi.« Von gemeinsamen Pausen im Container mit der Kaffeemaschine. Von Frauen, die einem betrunken bewundernd durchs Gesicht streifen, während ihre Freundin daneben verzweifelt schreit: »Stop! You can’t just touch peoples faces!« Von CSU-Politikern, die auf der Empore Selfies machen und von dutzenden Leibwächtern und einem Notarzt umzingelt sind, sodass man mit dem Korb nicht mehr durch den Gang kommt. Von Menschen, die die Maß in einem Zug austrinken, obwohl das verboten ist, um zehn Sekunden lang vom ganzen Zelt bejubelt und mit Brezn und Radieschen beworfen und dann von Sicherheitskräften hinausgeschmissen zu werden. Generell von Menschen. All das schweißt zusammen. Zumindest für den einen Abend.

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So standen wir dort und dachten im Taumel der Gefühle und des Alkohols nur eins: »Es ist vorbei!« Diese zwei Wochen, die in unserem Lebenslauf aussehen werden, wie eine weitere Verirrung, sind vorüber. Dieser Block, den mein Gedächtnis schon in einem Monat nicht mehr rekapitulieren können wird, weil er zu verschieden ist von dem restlichen Leben, das ich führe.

Ich wurde Breznsepp, Breznheini, Breznbua, Pretzel Guy und natürlich Ed Sheeran genannt. Circa 150 Mal.

Über zweitausend Brezn habe ich die letzten Wochen wohl an den Mann gebracht. Über 130 Stunden im Zelt verbracht. Hunderte Kilometer gelaufen. Hunderte Geldscheine in der Hand gehabt. Viele hundert Mal das Prosit gehört. Hunderttausende Leute getroffen. Auf etwa 400 Bildern bin ich zu sehen. Mindestens. Es scheint mir als wären viele dieses Jahr hauptsächlich wegen der Bilder und nicht wegen des Bieres auf die Wiesn gekommen. Ich laufe darin entweder im Hintergrund vorbei, bin direkt beim Selfie dabei oder posiere prototypisch mit Breze in der Hand und Lächeln im Gesicht. Auf vielleicht 200 Videos erscheine ich nebenbei. Etwa 50 Leute haben im Spaß oder ernsthaft versucht, mir etwas aus dem Korb zu stehlen. Soweit ich weiß hat es keiner geschafft.

Einmal hätte ich mich fast mit einem Dieb geprügelt, weil er nach der Brezn griff und mich dann beschimpfte, als ich ihn erwischte. Es war nicht immer leicht, die Ruhe zu bewahren. Zwei Telefonnummern habe ich zugesteckt bekommen. Ein Facebook-Name wurde bei einer Kollegin für mich hinterlegt. Alles von Leuten, die ich nicht kenne und wohl auch nie kennenlernen werde. Ich wurde Breznsepp, Breznheini, Breznbua, Pretzel Guy und natürlich Ed Sheeran genannt. Circa 150 Mal. In etwa genauso oft wurde ich auf diese Kolumne angesprochen. Meinen Namen kannte trotzdem niemand. Drei Stamperl Haselnussschnaps habe ich geschenkt bekommen. Von einem Gast, der sich mir formvollendet vorstellte. Mit dem ich ab und zu ein bisschen reden konnte. Acht Maß habe ich getrunken. Ein Hendl gegessen. Mehr als 25 Mal Kaffeepause gemacht. Etwa sechs Stunden auf der Kotzwiese gesessen. Den Korb circa 50 Stunden über dem Kopf getragen. 30 davon einhändig. Das war mein Leben der letzten zwei Wochen in Zahlen. Ein Körper. Ein Korb. Ein Brezn-Ed. Viel Geld.

Nach dem letzten Lied der Wiesn 2018 taumelten wir in Grüppchen nach und nach los. Während die restliche Belegschaft, Bedienungen, Sicherheitskräfte, Schänke, etc. das Zelt für die große Afterparty vorbereitete, trafen wir Breznverkäufer uns in einem Restaurant. Auf dem Weg ging, wie jedes Jahr, die Hälft volltrunken verloren. Kam, wenn überhaupt, erst viel später an. Dennoch war es befreiend, noch einmal die Stimmung des Breznstandes zelebrieren zu können. Nach außen zu tragen, was wochenlang nur in einem Hinterzimmer stattgefunden hatte. Mit dem Stolz der Gebeutelten in die Stadt rauszugehen. Sich der Euphorie von drei Maß auszuliefern. Und völlig erschöpft, aber glücklich, ohne Gedanken an den nächsten Tag nach Hause zu fahren. Auch, wenn die U-Bahn auf dem Heimweg erst einmal stecken blieb. Die Analyse der Sicherheitskraft am Bahnhof: »Da ist eine Bierflasche, die die Tür verklemmt«, während die Durchsage der um die verwirrten Wiesnbesucher besorgten MVG-Beamten ertönte: »Des hier is der Hauptbahnhof. Ihr seids hier richtig. München Hauptbahnhof. Einfach weitergehen!«

Und jetzt liege ich hier. Am Morgen danach. Der Ausnahmezustand ist vorbei. München erholt sich und zieht sich in seine Häuser zurück, in sein Privatleben. Mein voller Geldbeutel liegt auf dem Bodend, der Hut zerknüllt in der Ecke. Mein Kopf brummt. Ich habe einen Kater. Wie wohl die meisten Wiesnbesucher am Tag danach. Heute werde ich den ganzen im Bett liegen bleiben. Mein weitester Weg wird der zum Kühlschrank sein. Ich werde keine Brezn essen. Ich werde versuchen, wieder gesund zu werden. Wieder der zu werden, der ich vor der Wiesn war. Ich schaue aus dem Fenster. Mittlerweile ist es Herbst geworden. Die Blätter fallen, morgens kann man schon die Kälte des heranschleichenden Winters spüren. Vielleicht fahre ich noch ein paar Tage in den Urlaub. Ins Warme. Das habe ich mir verdient.